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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Obwohl dieses Gelände nur gut einen Kilometer Luftlinie von seinem eigenen Grundstück entfernt lag, konnte er sich nicht erinnern, schon einmal hier gewesen zu sein. Für jemanden, dessen Erinnerungsvermögen so porös war wie die Struktur eines Gasbetonsteines, musste das zwar nichts bedeuten, dennoch war er sich absolut sicher, noch nie einen Fuß auf diesen Boden gesetzt zu haben. Selbst in seiner Kindheit – an die er sich noch gut erinnern konnte und in der er oft an Wochenenden seine Großeltern hier besucht hatte – fehlte jeglicher Bezug zu diesem Ort. Und dennoch verspürte er eine tiefe Vertrautheit mit dem, was sich ihm hier erschloss … und so etwas wie Wehmut. Ein Gefühl, das er üblicherweise empfand, wenn er einen Roman vollendet hatte. Ein zwiespältiger Punkt in seinem Leben, an dem er vollkommene Zufriedenheit dabei erlebte, etwas geschaffen zu haben, gleichzeitig jedoch die drückende Pflicht verspürte, sich nun neuen Aufgaben stellen zu müssen. Ein Punkt, an dem etwas lange Vertrautes endete und zugleich etwas Neues, Unbekanntes begann.
    »Tom?«, riss Karin ihn aus seinen Gedanken. Er bemerkte, dass sie ihn noch immer voller Sorge betrachtete. »Sag doch bitte etwas. Was siehst du dort?«
    Einen Ball, der dort nicht sein dürfte, hätte er beinahe gesagt, doch das würde sie wohl vollkommen an seinem Verstand zweifeln lassen. »Nichts«, antwortete er stattdessen, zu erschöpft, um ihr zu erklären, was sich eben in ihm zugetragen hatte. »Lass uns hier verschwinden.«
    Sie gingen zurück zum Tor, und während Tom hinter Karin durch die Maschen schlüpfte, warf er noch einen letzten Blick auf das alte Gebäude. Wäre dies ein Schauplatz in einem seiner Romane gewesen, dann wären alle Handlungsfäden hier zusammengelaufen. Und ihn durchfuhr das unheilvolle Gefühl, dass er dieses Grundstück nicht zum letzten Mal betreten hatte. Diese alten Mauern waren der Schlüssel zu etwas, das ihn aus den dunklen Tiefen seiner Vergangenheit befreien konnte. Weder hätte er erklären können, woher diese Eingebung kam, noch weshalb er sich dessen so sicher war. Er wusste es einfach.
    Sie fuhren weiter die Straße entlang, die an einem Reiterhof und einer Sportanlage vorbeiführte und schließlich am Waldrand endete. Dort passierten sie eine abgelegene Gaststätte und bogen kurz darauf nach links in einen schmalen Privatweg ein, der sich durch das Dickicht des Waldes schlängelte und bis zu ihrem Grundstück führte. Es lag oberhalb eines kleinen Tals – in dessen Sohle sich ein See erstreckte, etwa so groß wie zwei Fußballfelder –, malerisch eingebettet zwischen den Bäumen eines Laubwaldes, dessen hüglige Ausläufer sich bis zum Horizont erstreckten. Das Haus darauf unterschied sich nicht wesentlich von den anderen in der Gegend bis auf die Tatsache, dass es als Nachbarn nur Eichhörnchen, Vögel und ein paar Forellen hatte, die der ortsansässige Anglerverein in dem See ausgesetzt hatte. Tom störten die Angler nicht. Er beobachtete sie oft von seinem Garten aus, wie sie mit ihren Kombis und Campingbussen die Ufer des Sees bevölkerten. Sie gaben ihm das Gefühl, nicht völlig von der Außenwelt abgeschottet zu sein, obwohl er ihre Leidenschaft nicht teilen konnte. Zu früh, als dass er es hätte begreifen können, war er damit konfrontiert worden, dass der Tod etwas Grausames sein konnte. Etwas Unnatürliches. Deshalb beschränkte er sich darauf, nur Dinge zu essen, die man vorher nicht umbringen musste.
    Der asphaltierte Weg ging in eine gepflasterte Einfahrt über, die zu einer breiten Garage führte. Früher hatte dort nur ein einfacher Carport gestanden, bevor Tom beschlossen hatte, das Haus von Grund auf renovieren zu lassen. Neben der neu angebauten Garage hatte er die alten Dachziegel durch Schieferplatten ersetzen und den vergrauten Außenmauern einen neuen Anstrich verpassen lassen, so dass sie nun wieder in leuchtendem Weiß erstrahlten. Neben der Garage führte ein schmaler Kiesweg direkt in den großen Garten, der das Haus zu zwei Dritteln umschloss und dessen Pflege neben dem Schreiben zu Toms Hauptbeschäftigung geworden war. Würde er diese Mauern nicht als sein Gefängnis betrachten, hätte er sie höchstwahrscheinlich als sein Traumhaus angesehen.
    Karin lenkte den Wagen in die offene Garage.
    »Erinnere mich daran, dass ich den Kerl anrufe, der uns dieses Garagentor verkauft hat«, knurrte Tom, nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war. »Das verdammte Ding ist jetzt

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