Stigma
in der Erwartung, noch schlimmere Verstümmelungen am Rest des Körpers zu entdecken, der jeden Moment in sein Blickfeld geraten würde … als er plötzlich eine Hand auf seiner rechten Schulter spürte.
Er schreckte herum, riss panisch die Fäuste hoch und ließ sie wild durch die Luft zucken, fest entschlossen, sich dieses Mal nicht kampflos in sein Schicksal zu ergeben.
Doch der Film hatte längst angehalten, und die Rückblende, die er gerade durchlebt hatte, war zerplatzt wie eine Seifenblase. Zu seiner großen Verwunderung starrte er in das entsetzte Gesicht von Karin, die ihn mit großen, angstvollen Augen anstarrte und die abwehrend die Hände vor den Körper hielt.
»Herrgott noch mal!«, schrie Tom völlig perplex und riss im letzten Moment die Fäuste zurück, die sonst unkontrolliert auf seine Frau eingeschlagen hätten. Sein Atem ging wie der eines gehetzten Stiers, und er hatte Mühe, die Beherrschung wiederzufinden. »Willst du mich zu Tode erschrecken, oder warum schleichst du dich so an mich heran?«, keuchte er.
Noch immer sah Karin ängstlich aus ihrer geduckten Haltung zu ihm auf. »Heranschleichen?«, wiederholte sie, und ihre Stimme gewann an Kraft. »Ich habe mehrmals laut nach dir gerufen, aber du hast nur dagestanden und Löcher in die Luft gestarrt!«
Tom sah sich um. Er stand noch immer an derselben Stelle, von der aus er die Grube entdeckt hatte, etwa zehn Meter von ihr entfernt. Alles sah wieder so aus wie vorher. Die Fußabdrücke und Reifenspuren im Boden. Das hohe Gras. Die Absperrung. Nichts davon hatte sich verändert. Zumindest nicht in jenem Teil seiner Wahrnehmung, den er als Realität bezeichnete.
Erleichtert atmete er auf. Das Ganze musste eine weitere intensive Rückkopplung seiner Erinnerung gewesen sein. Eine erneute Intrusion, wie Dr. Westphal sagen würde.
»Alles in Ordnung?« Karin betrachtete ihn argwöhnisch. »Du hast mir eine Heidenangst eingejagt.«
»Tut mir leid. Was machst du eigentlich hier?«, fragte er, noch immer ein wenig desorientiert.
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, gab sie barsch zurück. »Hast du die Schilder nicht gesehen? Mark und ich haben zwanzig Minuten auf dich gewartet, da habe ich mir Sorgen gemacht.«
Zwanzig Minuten? Ihm war es nur wie ein Augenblick vorgekommen. »Wo ist Mark jetzt?«
»Wo soll er schon sein, er wartet immer noch im Auto.«
»Du hast ihn allein gelassen?«
Karins Blick wurde scharf. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass du vorhast, hier einzubrechen. Was zum Teufel erhoffst du dir davon? So was wie Erlösung?«
»Ich weiß nicht.« In Gedanken versunken starrte Tom abermals auf die Grube. Plötzlich fiel sein Blick auf eine Stelle etwa drei Meter links neben der Absperrung. Genau dort, wo das Gras wieder in dichtes Unkraut überging, lag ein runder Gegenstand. Die dunklen Rillen darauf schimmerten durch die weiße Oberfläche wie Nähte nach einer Operation.
Ein Fußball.
So sehr wie ihn dieser Anblick irritierte, dachte er angestrengt darüber nach, ob dieser Ball schon vorher dort gelegen hatte. Er hätte ihm eigentlich auffallen müssen.
»Mein Gott«, entfuhr es Karin entsetzt, als sie seinem Blick folgte und das Erdloch entdeckte. »Ist das etwa die Stelle, wo sie das tote Mädchen gefunden haben?«
»Ja«, antwortete er fast teilnahmslos.
»Gütiger Himmel, Tom.« Bestürzt legte sie die Hände an die Wangen. »Du starrst diese Stelle an, als wäre sie für dich eine Art Altar. Das macht mir Angst, Tom, das ist krank.«
Tom schaute in ihre graugrünen Augen, in denen Furcht und Sorge lagen. Er konnte unmöglich von ihr verlangen, zu begreifen, was in ihm vorging. Niemand konnte das, der nicht ähnlich Traumatisches erlebt hatte und nun von derselben verzweifelten Unruhe dazu getrieben wurde, dieses klaffende schwarze Loch in seinem Leben zu erforschen, das seine Vergangenheit verschluckt hatte und die Gegenwart dadurch noch immer beeinflusste. Er selbst hatte oft genug Schwierigkeiten damit, das nachzuvollziehen, was durch sein Unterbewusstsein zu ihm durchdrang und ihn zu etwas wie dem hier veranlasste. Aber ihm war auch klar, dass dies nicht ohne Grund geschah. Etwas verband ihn mit diesem Gebäude und diesem Ort. Etwas, das mächtig genug war, ihn ohne Zögern hier eindringen zu lassen. Und das, obwohl er normalerweise nicht einmal sein eigenes Haus verlassen konnte, ohne dabei in Todesstarre zu verfallen. Allerdings konnte er sich nicht erklären, worin diese seltsame Verbindung bestand.
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