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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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es nun zurücklag. Und obwohl Toms Wahrnehmung durch die erhöhte Medikamentendosis mehr als getrübt gewesen war, konnte er sich seltsamerweise an jedes Detail dieses Tages erinnern. An die vielen Menschen, deren Nähe ihn beinahe erdrückt hätte. Daran, wie er nahezu betäubt in der Buchhandlung gesessen und fast automatisch seine Werke signiert hatte. Bücher, welche ihm von Fremden entgegengehalten wurden, die ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis betrachteten, da sie sein sonderbar abwesendes Verhalten vermutlich für Arroganz hielten. Und an die vielen Fragen, die so gedämpft und verzerrt durch den Medikamentenschleier zu ihm durchgedrungen waren wie Schreie aus einer Gummizelle. Es waren die üblichen Fragen gewesen, nach seinen Motiven, seinen Vorbildern oder woher er seine Ideen bezog. Fragen, die er zum Teil selbst nicht hätte beantworten können. Manchmal entstand eine Geschichte aus einem einzigen Gedanken. Ein anderes Mal brauchte sie Jahre, um zu reifen. Und was seine Geschichten betraf, so waren sie ihm regelrecht zugeflogen, wie ein Traum in der Nacht. Er hätte nicht erklären können, wieso dies geschah. Es lag ganz einfach in seiner Natur. Nur dass sein Instinkt sich eben ausschließlich auf den Bereich des Erzählens fixierte, was in seinen Augen keine besondere Fähigkeit darstellte. In solchen Fällen zitierte er gerne einen berühmten amerikanischen Kollegen, der einmal behauptet hatte, jeder hätte das Zeug dazu, einen Roman zu schreiben. Der einzige Unterschied zu einem Schriftsteller sei der, dass dieser sich die Mühe mache, es auch wirklich zu tun. Es war eine Aussage, auf die er immer wieder gerne zurückgriff, da sie ihm weitere Fragen ersparte und den Leuten in gewissem Maße schmeichelte.
    So auch an diesem Tag. Er signierte Bücher und beantwortete den Leuten geduldig ihre Fragen. Bis dieser Mann mit dem grünen Arbeitsoverall vor ihm stand, unter dem sich sein stramm vorstehender Bauch abzeichnete wie eine auftürmende Welle. Tom nahm an, dass er einer der Handwerker war, die im leer stehenden Nachbargebäude damit beschäftigt waren, der Koblenzer Altstadt einen weiteren Schnellimbiss zu bescheren, und der seine Mittagspause offenbar widerstrebend dazu nutzte, sich ein Exemplar von Dunkle Erinnerung signieren zu lassen. Sein missmutiger Gesichtsausdruck ließ Tom vermuten, dass er dies wahrscheinlich im Auftrag seiner Frau tat, da er selbst nicht wie ein begeisterter Anhänger spannender Unterhaltungsliteratur aussah. Doch trotz seines negativen Auftretens stufte Toms mentales Alarmsystem ihn nicht als Bedrohung ein. Die Medikamente hielten, was ihre Dosis versprach.
    Das sollte sich schlagartig ändern, als der Mann ihm das Buch entgegenstreckte.
    Das stetige wabernde Brummen in Toms Kopf, das ihn angenehm träge und gleichgültig machte, wich augenblicklich wachem Entsetzen, als er die Hand des Mannes betrachtete. Für jeden anderen wäre es nur eine einfache Hand gewesen, für Tom jedoch war es ein Indikator für Folter und Schmerz. Die Finger waren dick und fleischig und teilweise von Nikotin gelb verfärbt; sie verströmten einen penetranten Tabakgeruch, der bei Tom undefinierbare Assoziationen hervorrief. Dunkle, borstenartige Haare wucherten auf den Handrücken bis zu den Ärmeln des Baumwollhemdes hinauf. Wulstige Aderstränge verzweigten sich darunter wie ein Netzwerk aus graublauen Schlangen. Und dann dieser Ring. Ein einfacher goldener Ehering, dessen Oberfläche bereits leicht zerkratzt war. Zu diesem Zeitpunkt konnte Tom nicht genau sagen, was diese unbändige Panik in ihm auslöste, doch er glaubte plötzlich, die kalte Härte dieses Rings auf seiner Wange zu spüren, getrieben von einer Wucht, die nur dem Wahnsinn entstammen konnte. Er fühlte, wie diese Hand sich über seinen Mund legte und seine verzweifelten Schreie erstickte. Wie sie ihn packte und hinein in die Dunkelheit zerrte, aus der es kein Entrinnen gab und die er nie wieder als der verlassen sollte, der er gewesen war. Die Dunkelheit, die seine Unschuld verschluckt hatte.
    Wie von Sinnen sprang er auf und riss polternd seinen Stuhl zu Boden, während er in panischer Furcht zurücktaumelte und dabei noch immer auf die Hand des Mannes starrte, als gehöre sie dem Teufel persönlich. Die Menschen um ihn herum sahen fassungslos zu, wie er fluchtartig in den hinteren Bereich der Buchhandlung stürzte und in der Toilette verschwand.
    Tom war es ziemlich egal, was die Leute in diesem Moment über

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