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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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kein Hotelzimmer suchen, wie du sicher verstehen wirst. Aber ich übernachte heute im Arbeitszimmer. Du brauchst also nicht zu befürchten, dass ich über dich herfalle.«
    »Ach, Tom«, schluchzte Karin, und die Tränen strömten ihr jetzt über das blasse Gesicht, das sie gleich darauf in den Händen vergrub.
    »Ich gehe jetzt nach oben und versuche, ein bisschen zu arbeiten. Warte nicht mit dem Abendessen auf mich.« Er wandte sich ab und ließ seine weinende Frau am Tisch zurück. Auf dem Treppenabsatz hielt er kurz inne und sagte, ohne sich zu ihr umzudrehen: »Ich weiß es durchaus zu schätzen, dass ihr euch solche Sorgen um mich macht. Aber es enttäuscht mich sehr, dass du tatsächlich der Meinung bist, ich könnte dir oder Mark etwas antun. Glaub mir, ich habe nie gewollt, dass ihr in all das verwickelt werdet. Ich habe mich immer mit ganzem Herzen darum bemüht, die Angst von diesem Haus fernzuhalten. Aber wie es jetzt aussieht, habe ich mir wohl nur etwas vorgemacht. Angst wird immer ein Bestandteil meines Lebens sein. Anscheinend ist das das Einzige, dessen ich mir noch sicher sein kann. Aber wenn ich schon dazu gezwungen bin, dieser Angst die Kontrolle über gewisse Bereiche meines Lebens zu überlassen, werde ich doch niemals aufhören, sie zu bekämpfen. Und solange ich klar denken kann, entscheide ich alleine, wann und auf welche Weise ich das tue.« Dann ging er nach oben und schlug die Tür hinter sich zu.
    Der Nachmittag verstrich so schnell, dass Tom überrascht war, als er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers blickte und feststellte, dass sich bereits die Dämmerung über den angrenzenden Wald gelegt hatte. Diesmal jedoch war es keine Gedächtnislücke, die für diesen Zeitsprung verantwortlich war. Wenn man seinen Gedanken nachhing, schien die Zeit kein fester Faktor mehr zu sein.
    Seit Stunden hatte er sich nun hier oben eingeschlossen, hatte grübelnd hinter seinem Schreibtisch gesessen oder war nervös im Zimmer auf und ab gewandert wie ein Gefangener in seiner Zelle. Sein Kerker schien immer kleiner zu werden, beschränkte sich jetzt auf die knapp dreißig Quadratmeter dieses Raumes. Der Rest des Hauses gehörte nun zu einer Welt, die ihm immer fremder geworden war. Seine eigene Familie hatte Angst vor ihm, und er hatte die letzten Stunden verzweifelt damit zugebracht, herauszufinden, wie es innerhalb kürzester Zeit dazu hatte kommen können, dass seine Welt, die fast ausschließlich aus seinem Zuhause bestand, zu einem Ort des Misstrauens und der Anschuldigungen hatte werden können. Und er war überzeugt davon, dass keine Hypnosetherapie auf diesem Planeten ihm eine überzeugende Antwort darauf liefern konnte. Lediglich ein Verdacht verdichtete sich in ihm mehr und mehr zu einer festen Gewissheit, und zwar dass derjenige, der ihm diese Botschaft hatte zukommen lassen, genau das damit bezweckte. Für Tom stand diese Absicht mittlerweile außer Frage. Irgendjemand hatte vor, ihn fertigzumachen, ihm alles zu nehmen, was ihm wichtig war, um ihn damit aus der Reserve zu locken. Was ihm daran am meisten zu schaffen machte, war die Tatsache, dass es dieser Person tatsächlich zu gelingen schien. Sie hatte es immerhin in kürzester Zeit geschafft, dass er sich seiner eigenen Familie und seinem besten Freund entfremdete, und das umfasste so ziemlich alles, was ihm etwas bedeutete. Langsam zweifelte er sogar an seinem eigenen Geisteszustand. Und über alldem lag das Motiv des Täters völlig im Dunkeln. Und Tom erschien es ziemlich aussichtslos, darüber zu grübeln, da alle Möglichkeiten, auf die er eventuell stoßen könnte, sich in reiner Spekulation verlaufen würden. Allerdings war er sicher, dass die Gründe dafür nicht allein in seiner Vergangenheit zu suchen waren. Dieser zugegebenermaßen naheliegende Verdacht schien ihm zu simpel. Zu viel Zeit war seither verstrichen. Es ergab einfach keinen Sinn. Er konnte die Ereignisse von damals zwar nicht gänzlich ausschließen, doch die Motive des Täters allein darauf zu reduzieren reichte nicht aus. Seiner Meinung nach waren sie nur der Aufhänger, die Grundidee, um die herum sich alles aufbaute. Als Schriftsteller kannte er sich immerhin bestens mit derartigen dramaturgischen Feinheiten aus, was ihn letztendlich aber auch nicht weiterbrachte. Das Ganze war und blieb ihm ein Rätsel.
    Die Ruhe im Haus war beinahe beängstigend. Nur gelegentlich drangen Geräusche aus Marks Zimmer oder den Räumen im Erdgeschoss zu ihm herauf. Ansonsten war es

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