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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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still. Lediglich das stetige leise Ticken der Uhr über dem großen Regal lenkte ihn ab. Er ließ seinen Blick über die vielen Bücher gleiten, die das Regal füllten und ihn mit ihren verheißungsvollen Titeln lockten. Bücher waren schon immer ein wichtiger Bestandteil seines Lebens gewesen. Sie boten ihm Lehrstoff und Zuflucht zugleich, hatten etwas Verführerisches und waren außerdem inspirierend. Und der Gedanke, dass womöglich in diesem Moment jemand da draußen eines seiner Bücher in den Händen hielt und dabei dasselbe empfand, machte ihn unendlich stolz.
    Er fragte sich, ob Karin jemals wirklich begriffen hatte, was ihm dies alles bedeutete und wie wichtig es für ihn war. Ein paarmal war er kurz davor gewesen, nach unten zu gehen und sie um Verzeihung zu bitten. Sie einfach in die Arme zu nehmen, sie zu küssen und damit der quälenden Angst, sie zu verlieren, ein Ende zu machen.
    Dieses Mal schadest du damit den Menschen, denen du wirklich etwas bedeutest!
    Doch allein der Gedanke, dass Karin anscheinend überzeugt war, er könnte ihr etwas antun, war ihm unerträglich. Außerdem fühlte er sich von ihr hintergangen. Und nicht zuletzt hatte er keine Lust mehr zu reden. Sein Mitteilungsbedürfnis war für den heutigen Tag mehr als erschöpft, und wenn er die Ergebnisse seiner Bemühungen betrachtete, wäre es vermutlich besser gewesen, eine seiner Gedächtnislücken hätte ihn erwischt und diesen Tag für immer aus seiner Erinnerung gelöscht. Doch komischerweise schienen negative Aspekte dieser Art von seiner partiellen Demenz nicht betroffen zu sein. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit seiner Situation auseinanderzusetzen, die zunehmend einer inneren Zerreißprobe glich.
    Zum einen war da seine Ärztin, die einen seelischen Kammerjäger auf sein Innerstes loslassen wollte, um damit jene Blockaden einzuäschern, die ihn zu dem abgeschiedenen Leben zwangen, welches er führte. Doch jetzt, wo diese Möglichkeit konkret wurde, hatte er schreckliche Angst davor. Die Metapher, mit deren Hilfe er Stunden zuvor versucht hatte, seinem Sohn zu erklären, was in ihm vorging, war gar nicht so weit hergeholt gewesen. Die Angst vor bösen Erinnerungen war tatsächlich mit der Angst vor Spinnen vergleichbar. Denn beide konnte man nur besiegen, wenn man sich ihnen aussetzte. Dazu jedoch fühlte er sich nach den jüngsten Erfahrungen außerstande. Die kurzen Rückblenden hatten schon genug an seinen Nerven gezerrt. Das volle Ausmaß seines Martyriums zu begreifen würde ihn vermutlich den Verstand kosten. Da zog er sein Einsiedlerdasein eindeutig vor, auch wenn andere das vielleicht als Feigheit interpretierten. Für ihn jedoch war diese Zurückgezogenheit eine Art Regeneration. Eine Art Refugium, um einen gewissen Abstand zwischen sich und seiner Vergangenheit aufzubauen. Aus einer bestimmten Distanz heraus, so lautete seine Theorie, war es leichter, sich den Geschehnissen aus seiner Kindheit zu nähern. Im sicheren Schutz von Heim und Familie war eben vieles einfacher zu ertragen. Und dieser Welt, die ihm so Schreckliches angetan hatte, den Rücken zu kehren, schien ihm da nur eine logische Konsequenz zu sein. Andererseits musste er sich eingestehen, dass es trotz aller Einschränkungen all die Jahre sehr bequem gewesen war, sich unter dem Deckmantel der Angst zu verkriechen. Jetzt jedoch drohten sowohl seine Ehe als auch die einzige Freundschaft, die er in den letzten Jahren hatte erfahren dürfen, an ebendieser Isolation zu zerbrechen. Eine Freundschaft, die, wie er zugeben musste, so merkwürdig begonnen hatte, dass es ihm noch heute manchmal grotesk vorkam.
    Genau wie damals bist du schon wieder dabei, dich auf die Toilette zu flüchten und vor allem davonzulaufen!
    Er konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem er Stefan das erste Mal begegnet war. Genau genommen war Fanta einfach aufgetaucht, in einem Moment, in dem er es sich am wenigsten erhofft hätte. Denn wenn man halb besinnungslos vor Angst in einer Herrentoilette hängt und sich die Eingeweide aus dem Leib kotzt, legt man im Grunde keinen großen Wert auf Gesellschaft. Und noch weniger rechnet man in solchen Momenten mit einer Begegnung, die einen so nachhaltig beeindruckt, dass sich daraus eine Freundschaft entwickelt. So verschwommen seine Erinnerung an die Vergangenheit auch sein mochte, dieses erste Zusammentreffen war so deutlich in seinem Gedächtnis verankert, dass es die zwei Jahre nahezu vollständig überdauert hatte, die

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