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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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ihn dachten. Jedes einzelne Molekül seines Körpers war von dem Virus Angst befallen, der seine gesamte physische Existenz außer Kraft zu setzen schien. Es war, als hätte der bloße Anblick dieser Hand in seinem Inneren eine Adrenalinbombe gezündet, deren verheerende Energie sich wie die Druckwelle einer Explosion durch seine Eingeweide fraß. Zitternd und schweißüberströmt stand er an die kalten Fliesen des Toilettenraumes gepresst regungslos da, hilflos dem lähmenden Gefühl der Todesangst ausgeliefert. Sein Puls raste, und Tom fürchtete, sein Herz könne dieser Belastung nicht standhalten und den Dienst versagen. Mit zitternden Händen lockerte er seine Krawatte, die ihm die Luft abzuschneiden drohte. Die Wände des Raumes pulsierten grell vor seinen Augen. Sie dehnten sich mit jedem Schlag seines Herzens aus und zogen sich wieder zusammen, bis sie schließlich anfingen, sich zu drehen, und eine Woge der Übelkeit über ihn hereinbrach. Er schaffte es gerade noch, sich über eines der Pinkelbecken zu beugen, wo er sich mit einer Heftigkeit übergab, die er selbst nicht für möglich gehalten hätte. Fast schien es so, als dränge all das Böse, das sich durch die Blockaden in ihm aufgestaut hatte, auf einen Schlag aus ihm heraus.
    Es vergingen einige Sekunden, bis sich seine Sinne wieder beruhigt hatten und die Panik versiegte wie Wasser in einem Kaffeefilter. Noch immer hing er keuchend über dem Becken, als er neben sich ein leises Plätschern wahrnahm. Augenblicklich spannten sich seine Sinne wieder, und er fuhr erschrocken zurück, als er den Mann entdeckte, der ein Becken weiter stand und dessen Erscheinung so unwirklich war, dass Tom sie zunächst für ein Trugbild seines benebelten Verstandes hielt.
    Der Mann war hochgewachsen und schlank. Er trug eine rote Lederhose, die bis zu den weißen Turnschuhen hinunter mit goldenen Nieten verziert war. Sein Oberkörper war in eine eierschalenfarbige Jeansjacke gehüllt, auf der aufwendige Stickerei auf dem Rücken wohl so etwas wie einen Adlerkopf darstellen sollte. Sein Gesicht war glatt und jugendlich, und die blondierten Haare standen wie Stacheln von seinem Kopf ab. Auf den ersten Blick sah er aus wie eine absurde Parodie des jungen Billy Idol. Und er stand einfach nur da und pinkelte. Das war auf einer öffentlichen Toilette gewiss nichts Ungewöhnliches, dennoch kam Tom dieses Bild äußerst trügerisch vor. Er hätte nicht auf Anhieb sagen können, ob dieser Mann schon vorher dort gestanden hatte, doch er war sich fast sicher, dass nach ihm niemand mehr in diesen Raum gekommen war. Wie angewurzelt kniete er auf dem Boden und betrachtete den anderen mit großen, unschlüssigen Augen.
    Schließlich seufzte der Mann zufrieden und betätigte die Spülung. Anschließend warf er einen beiläufigen Blick auf Tom, als bemerke er ihn erst jetzt.
    »Ist schon erstaunlich, wie erleichternd so ein Gang aufs Klo sein kann«, sagte er beschwingt, als fände er nichts Ungewöhnliches an dieser Situation. »Hat fast schon was Spirituelles, findest du nicht?« Er schielte verstohlen in das Becken, in das Tom sich übergeben hatte. »Alle Achtung, Alter«, meinte er anerkennend. »Ihr Schriftsteller lasst euch die Dinge gerne noch mal durch den Kopf gehen, was?« Er grinste und zog geräuschvoll seinen Reißverschluss hoch.
    Noch immer bekam Tom kein Wort heraus. Mit offenem Mund starrte er den Mann an, als wäre er eine Fata Morgana. Dem verschmitzten Grinsen seines Gegenübers konnte er entnehmen, dass der ihn lediglich auf den Arm nehmen wollte.
    »Mach dir nichts draus«, meinte der Mann schließlich. »Anders zu sein kann manchmal ganz schön stressen. Ich kenn das.«
    Schließlich wandte der Mann sich ab und verschwand kurz im Nebenraum. Gleich darauf stand er wieder vor ihm und hielt ihm mehrere grüne Papierhandtücher aus dem Spender über dem Waschbecken hin.
    »Hier, Alter«, meinte er knapp. »Solltest dich lieber ein wenig sauber machen, bevor du wieder rausgehst.« Damit packte er Tom am Arm und hob ihn auf die Füße. Es schien ihn keinerlei Mühe zu kosten.
    Zaghaft wischte Tom sich den Mund ab. »Danke, aber ich …«, stammelte er heiser, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Ich habe ganz bestimmt nicht vor, noch einmal da rauszugehen.«
    Das Lächeln des Mannes ließ ein wenig nach. »Tja«, meinte er enttäuscht, »dann hab ich wohl im wahrsten Sinne des Wortes ins Klo gegriffen.«
    »Kenne ich Sie?«, fragte Tom, der sich plötzlich auf

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