Stigma
denselben Kindergarten wie mein Sohn.«
»Ja. Der Kindergarten ist nur etwa dreihundert Meter von Tanjas Elternhaus entfernt. Aber sie ist dort nie angekommen.«
»Glauben Sie …«, setzte Tom an, geriet jedoch bei dem Gedanken ins Stocken. »Denken Sie, sie ist …«
»Es ist noch zu früh, um etwas Konkretes zu sagen. Von Tanjas Mutter wissen wir allerdings, dass sie seit kurzem von ihrem Ehemann getrennt lebt und dass jetzt ein Sorgerechtsstreit um das Kind läuft. Deshalb halten wir es durchaus für möglich, dass der Vater des Kindes für die Entführung verantwortlich ist. Meine Kollegen sind gerade auf dem Weg zu ihm. Mehr kann ich im Moment nicht sagen.«
»Danke«, schluchzte Tom. »Danke, dass Sie mich angerufen haben.«
»Tut mir leid, wenn ich Sie beunruhigt habe, aber ich dachte, Sie sollten Bescheid wissen. Haben Sie meinen Rat in Sachen Sicherheit befolgt?«
Die Kraft wich aus Toms Arm wie Luft aus einem löchrigen Ballon, und der Hörer sank herab.
»Herr Kessler?«, hörte er noch die Stimme des Kommissars, bevor er das Gespräch abrupt beendete und das Telefon neben sich auf den Boden fallen ließ.
Eine Weile hockte er so da, schluchzte und wimmerte und starrte auf die frischen Löcher in der Erde, die jetzt wie kleine dunkle Gräber aussahen. Und fast als hätte er es erwartet, bewegte sich plötzlich etwas in einem der Löcher. Zunächst waren es nur kleine Klümpchen der frischen Muttererde, die aus den Seiten der Vertiefung herausbröckelten. Dann hob sich langsam der Boden, und Tom konnte die Kuppen kleiner Finger erkennen, die durch die Erde hervorbrachen wie die zarten Keime einer Pflanze. Immer weiter wuchsen sie empor, bis Tom die Hand eines Kindes erkennen konnte, übersät von Striemen und kleinen Wunden, die flehend nach ihm griff wie nach einem rettenden Felsvorsprung. Und obwohl er wusste, dass dies nicht wirklich geschah, sondern nur wieder eine seiner Visionen sein konnte, war er vor Angst völlig gelähmt. Die Hand arbeitete sich weiter vor, suchte verzweifelt nach Halt. Sie war nur noch Zentimeter von seinem Knie entfernt, doch Tom konnte nicht reagieren, war nicht in der Lage, nach der Hand zu greifen, nach dem Kind, dem sie gehörte.
Geh weg, flehte er in seinem Innersten. Verschwinde. Lass mich endlich in Ruhe!
Die Hand bäumte sich noch einmal auf, griff nach ihm. Dann erschlaffte sie und blieb leblos liegen. Kurz darauf glitt sie langsam zurück, als zöge auf der anderen Seite des Loches jemand daran. Jemand, der diese Trophäe für sich beanspruchte und sie mit aller Gewalt zurückverlangte.
Sie verlassen mich wieder, hörte er die schrille Stimme sagen, die aus den tiefsten Schluchten seines Unterbewusstseins zu ihm sprach. Und du weißt, wie sehr ich es hasse, verlassen zu werden …, hallte es ihm noch durch den Kopf, als die Hand bereits wieder im Erdreich versunken war.
Tom atmete tief durch und merkte, wie die Anspannung aus ihm wich. Gleichzeitig dehnte sich die Luft um ihn herum schlagartig aus und verringerte ihren Druck. Am liebsten wäre er aufgestanden und davongelaufen, doch er konnte sich noch immer nicht bewegen. Zu tief saß der Schock über Tanjas Entführung. Plötzlich wünschte sich Tom, er hätte diesen Anruf nie bekommen.
»Was wollte der Kommissar?«
Er schreckte herum und stellte erstaunt fest, dass Karin direkt hinter ihm stand. Seine geröteten Augen, die voller Tränen waren, blickten erleichtert zu ihr auf, als wäre er noch nie so froh gewesen, sie zu sehen.
»Tom!«, stieß Karin entsetzt hervor, und ihre kühle Abgeklärtheit verwandelte sich auf der Stelle in Besorgnis, als sie Toms desolaten Zustand sah. »Du meine Güte, was ist denn passiert?« Sie kniete vor ihm nieder und strich ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn.
Tom starrte sie nur an, schaute in ihre graugrünen Augen, in denen er nichts als Reinheit und aufrichtige Fürsorge erblickte, und in diesem Moment wurde ihm eines auf erschreckende Weise klar: Er hatte sie nicht verdient!
»Karin«, sagte er mit schwacher Stimme. Die Tränen in seinen Augen trübten ihre Schönheit. »Hast du letzte Nacht oder heute Morgen irgendetwas Ungewöhnliches im Haus bemerkt?«
Karin betrachtete ihn verwirrt. »Wie meinst du das?«
»Ich meine, hast du Geräusche gehört, oder hat jemand das Haus verlassen?«
»Das Haus verlassen?«, wiederholte sie beunruhigt. »Tom, was ist denn los mit dir?«
»Es tut mir leid.« Die Tränen strömten nun über seine hochroten Wangen,
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