Stigma
Zeit aus dem Weg ging, was sie dazu veranlasste, dasselbe zu tun. Zwischen den beiden herrschte eine neutrale, zuweilen auch gleichgültige Haltung. In gewisser Weise war Tom sogar dankbar für diese Distanz.
Den Großteil des Nachmittags verbrachte er mit Gartenarbeit. Er mähte, jätete und pflanzte, doch sosehr er auch versuchte, sich zu beschäftigen, seine Gedanken ließen sich nicht ablenken, sie wurden von den Ereignissen angezogen wie Mücken vom Licht. Wie besessen hackte er auf den Boden ein, hob Löcher aus und setzte Pflanzen hinein, aber es half nicht. Immer wieder tauchte diese Zeile vor seinen Augen auf, fügten die Buchstaben sich zu dieser unheilvollen Botschaft zusammen, deren Drohung mehr und mehr zur Gewissheit wurde.
Es beginnt erneut.
Entsetzliche Angst wallte in ihm auf, und er fürchtete, völlig den Verstand zu verlieren. Je tiefer er Hacke und Spaten ins Erdreich rammte, desto mehr hatte er das Gefühl, selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren. Alles um ihn herum nahm plötzlich einen surrealen Charakter an, drang nur noch verzerrt und gedämpft zu ihm durch, als befände er sich unter Wasser. Dies ließ seine Befürchtung mehr und mehr zur Gewissheit werden. Geisteskrankheit war die einzige plausible Erklärung, doch die kam für ihn nicht infrage.
Nein!, bäumte er sich dagegen auf, während er mit seiner Hacke einen weiteren kegelförmigen Erdklumpen aus dem Boden hob. Ich werde nicht wahnsinnig!
Aber was für eine Erklärung gab es dann dafür? War in der Nacht etwa jemand in seinem Zimmer gewesen? Er erinnerte sich vage daran, im Schlaf ein Geräusch gehört zu haben, konnte aber nicht mit Sicherheit sagen, ob dies wirklich geschehen war oder ob es sich nur um das Fragment eines Traumes handelte. Doch selbst für den Fall, dass er dieses angebliche Geräusch tatsächlich gehört hatte, wer sollte es verursacht haben? Einbrecher? Sein Arbeitszimmer befand sich im oberen Stock des Hauses und war von außen nicht zugänglich. Also hätte sich jemand durch die Vordertür oder den Terrasseneingang Zutritt verschaffen müssen, wofür es keinerlei Anzeichen gab und was vermutlich so viel Lärm gemacht hätte, dass es niemals unbemerkt geblieben wäre.
Jedenfalls nicht, wenn dein Haus eine Alarmanlage hätte, dachte er sarkastisch.
Die offene Garage kam ihm in den Sinn. Und sofort wurde ihm klar, dass es selbst für einen ungeübten Einbrecher ein Leichtes gewesen wäre, durch die Verbindungstür ins Haus zu gelangen. Trotzdem hielt er es für ausgeschlossen, es klang einfach zu absurd. Niemand würde ein solches Risiko eingehen, nur um ihm eine Botschaft auf seinem Computer zu hinterlassen. Demnach kamen nur zwei Personen dafür infrage. Und eine davon war noch nicht einmal vier Jahre alt und somit wohl kaum in der Lage, ihm einen solch perfiden Streich zu spielen. Blieb also nur noch Karin. Im Gegensatz zu Mark hätte sie zumindest ein überzeugendes Motiv. Sie wollte ihn unbedingt zu dieser Therapie überreden, das hatte sie ihm mit ihrer unterschwelligen Drohung deutlich zu verstehen gegeben. Und sie hatte Angst vor ihm. Aber würden ihre Angst und ihre Fürsorge sie tatsächlich dazu treiben, ihm heimlich Nachrichten zu hinterlassen? Das hielt er für äußerst unwahrscheinlich, zumal sie es bestimmt nicht riskiert hätte, ihn dabei zu wecken. Sie hätte ihn schon betäuben müssen, um sicherzugehen …
Der Kakao!
Der Gedanke kam ihm so plötzlich, dass er erschrak. Hatte sie etwa ein Schlafmittel hineingemischt? Immerhin würde das erklären, weshalb er sich am Morgen so betäubt gefühlt hatte. Sie war Arzthelferin und also mit derlei Dingen vertraut. Vermutlich wäre es sehr leicht für sie gewesen, sich mithilfe von Dr. Westphal ein entsprechendes Mittel zu besorgen. Allerdings würde es nicht erklären, weshalb er heute Morgen im Wintergarten aufgewacht war. Ohne fremde Hilfe hätte sie ihn unmöglich dorthin schleppen können. Ganz abgesehen davon, dass das keinen Sinn ergab. Aber womöglich wollte sie ihm auf diese Weise ihre Ängste verdeutlichen, um ihn so dazu zu bewegen …
Stopp!
Wutentbrannt rammte er den Spaten in den Boden. Was machte er da eigentlich? Er war im Begriff, ein Szenario zu entwickeln, in dem seine eigene Familie ihn um den Verstand bringen wollte. Menschen, die er liebte und die all die Jahre für ihn da gewesen waren. Menschen, die ihm ein Zuhause geschaffen hatten. Und damit eine Zuflucht. Er schämte sich zutiefst für diese Gedanken. Wie
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