Stigma
erstaunt fest, dass er fast elf Stunden geschlafen hatte; sie zeigte 9 Uhr 44. Dennoch war er völlig erschöpft, und seine Kleider fühlten sich klamm und klebrig an. Das Summen in seinem Kopf ging langsam in eine Melodie über, die wie ein Echo durch sein Hirn hallte, ohne dabei einen erkennbaren Ursprung zu haben.
Benommen stand er auf und betrat das angrenzende Wohnzimmer. Sein Knie schmerzte noch immer, und in seinen Beinen glaubte er so etwas wie Muskelkater zu spüren, als wäre er kilometerweit gelaufen. Doch das führte er darauf zurück, dass er die Nacht auf einer Couch verbracht hatte, die seinen Körpermaßen nicht annähernd gerecht wurde.
»Karin?«, rief er in die Stille des Hauses, wartete jedoch vergeblich auf eine Antwort. Er ging weiter, an der leeren Küche vorbei auf die Wendeltreppe zu, die nach oben führte. Die Melodie in seinem Kopf verblasste allmählich, worüber Tom nicht unglücklich war, denn es handelte sich dabei um einen Song einer Rockgruppe, deren Musik er in etwa so viel abringen konnte wie einem dreistündigen Migräneanfall. Er fragte sich, woher diese Melodie wohl gekommen war. Vermutlich aus demselben abgestandenen Winkel seines Gehirns, in dem auch der restliche Unrat seiner Erinnerungen eingelagert war.
Die Tür des Schlafzimmers stand offen, und aus dem Bad konnte er das Rauschen der Dusche hören. Karin schien gerade erst aufgestanden zu sein. Vermutlich hatte ihr gestriger Streit auch sie nicht zur Ruhe kommen lassen, denn normalerweise schlief sie nicht so lange. Er würde sich noch vor dem Frühstück bei ihr entschuldigen, um das Ganze so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Danach, so hoffte er, würde endlich wieder alles seinen gewohnten Gang gehen, denn er hasste es zutiefst, aus seiner alltäglichen Routine gerissen zu werden und so die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Obwohl er sich im Moment nicht mehr sicher war, ob diese Art der Kontrolle jemals existiert hatte.
Die Dielen knarrten dumpf, als er sein Arbeitszimmer betrat. Zunächst glaubte er, alles so vorzufinden, wie er es am Abend zuvor hinterlassen hatte, als er auf dem Sofa eingeschlafen war. Doch dann fiel sein Blick auf den breiten Schreibtisch vor dem großen Panoramafenster.
Der Monitor seines Computers war eingeschaltet.
Er hatte am Abend zuvor nicht am Computer gearbeitet, dessen war er sich sicher. Und doch zog das Logo des Herstellers, das als Bildschirmschoner eingestellt war, munter seine Kreise darauf. Als Nächstes glitt sein Blick zu dem wuchtigen Epson-Drucker, der jedoch ausgeschaltet war.
Stöhnend ließ er sich auf dem lederbezogenen Bürostuhl nieder. Er berührte eine Taste. Augenblicklich verschwand das tanzende Logo, und sein Textverarbeitungsprogramm erschien.
Die Zeilen, die dort standen, verbannten schlagartig sämtliche Müdigkeit aus seinen Gliedern. Wie von Sinnen starrte er auf die Wörter, deren Botschaft eisige Kälte in ihm aufsteigen ließ. Sein Blick schwenkte langsam nach rechts unten. Unterhalb der blinkenden Eingabemarke stand die Seitenzahl 46.
Sechsundvierzig, wiederholte er in Gedanken.
Zitternd legte sich seine Hand über die Maus und scrollte zurück. Die Seiten flogen vorüber – … 40 … 36 … 22 … 13 … –, bis er schließlich auf Seite 1 angelangt war. Die Botschaft hatte sich nicht verändert. Es war nur ein Satz, der sich auf allen Seiten ständig wiederholte.
»Es beginnt erneut.«
Aufgewühlt klickte er in der Menüleiste des Programms auf Datei und rief Eigenschaften auf. Das Entstehungsdatum zeigte den heutigen Tag. Mittwoch, den 17. Mai, 05:33 Uhr.
Unmöglich!
Keuchend kehrte er zum Text zurück und starrte minutenlang die immer wiederkehrende Zeile an, in der Hoffnung, dass sie sich als Trugbild erweisen möge. Doch stattdessen breitete sie sich vor ihm aus wie ein Mantra, bis die Schrift aus dem Bildschirm herauszubrechen schien, und seine spröden Stimmbänder begannen, die Botschaft wie einen unheilvollen Gesang zu wiederholen.
»Es beginnt erneut«, flüsterte er wie in Trance, während seine Augen den Wörtern folgten. Wieder und wieder. »Es beginnt erneut!«
Die folgenden Stunden verbrachte Tom in einem Zustand, der alles trübe und neblig erscheinen ließ und es ihm unmöglich machte, sich auf etwas zu konzentrieren. Seine Bewegungen waren schwerfällig und mechanisch, er war geistesabwesend und in sich gekehrt. Diese Stimmung machte eine Aussprache mit Karin unmöglich, so dass er ihr die meiste
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