Stigma
als wollten sie deren pochende Hitze löschen. »Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe. Glaub mir bitte, das alles hier tut mir so schrecklich leid.«
»Oh Gott, Tom.« Sie nahm sein Gesicht in die Hände und wischte die Tränen weg. »Ich will doch nur, dass du dir helfen lässt. Weshalb sträubst du dich so dagegen? Vor was hast du nur solche Angst?«
Er antwortete nicht, sondern sank nur schluchzend in ihre Arme, die sich ihm bereitwillig entgegenstreckten, und ergab sich seinen Tränen.
»Hier«, sagte Karin, als sie wieder auf die Terrasse kam. Sie reichte Tom ein Glas kaltes Wasser, das er gierig in einem Zug leerte, und setzte sich neben ihn an den Tisch. In der Hand hielt sie ein halb gefülltes Cognacglas. Nachdem Tom ihr von Dorns Anruf erzählt hatte, brauchte sie etwas, um ihre angespannten Nerven zu beruhigen.
»Arme Jenny«, sagte sie und verzog angewidert das Gesicht, nachdem sie einen großen Schluck getrunken hatte. »Man kann sich kaum vorstellen, was sie als Mutter jetzt durchmacht. Ich rufe sie gleich nachher an. Sie kann jetzt sicher Beistand gebrauchen.«
»Ja, tu das«, sagte Tom, der noch immer in seinem Dämmerzustand dahintrieb, mit gebrochener Stimme.
Karin sah eine Zeit lang nachdenklich zu Boden. Dann stellte sie ihr Glas auf dem Tisch ab und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich denke, es ist Zeit, dass ich mich bei dir entschuldige.«
Tom sah sie fragend an.
»Du hattest vollkommen recht, was Mark angeht«, sagte sie weiter. »Es war richtig, ihn aus dem Kindergarten zu nehmen. Wie konnte ich nur daran zweifeln? Nicht auszudenken, wenn er es gewesen wäre, der …« Hastig griff sie nach dem Glas und trank einen weiteren Schluck.
»Ist schon gut«, beschwichtigte Tom.
»Nein, ist es nicht«, hustete sie. »Ich war einfach zu stur, um die Gefahr zu erkennen. Ich wollte nicht zulassen, dass irgendein Wahnsinniger die Kontrolle über unser Leben erlangt, und habe bewusst die Sicherheit unseres Sohnes riskiert. Das ist unverzeihlich.« Sie griff nach seiner Hand, und in ihren Augen lag ein flehender Blick. »Bitte lass nicht zu, dass dir dasselbe passiert, Tom. Ich möchte dich wirklich nicht zu etwas zwingen, das du nicht tun willst, aber bitte mach nicht denselben Fehler wie ich und übersieh die Gefahr, die es mit sich bringt, wenn man nur aus eigenen Motiven handelt. Triff nicht aus verletztem Stolz die falsche Entscheidung. Denk in Ruhe darüber nach. Das ist alles, worum ich dich bitte.«
Tom seufzte. »Seit gestern tue ich nichts anderes«, sagte er, und es klang verzweifelt. »Und je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass es mich zerstören würde.«
»Wie kommst du darauf?«
Er beugte sich zu ihr vor und erwiderte ihren Händedruck. »Seit diesem Tag vor dreizehn Jahren habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als mich an die Dinge zu erinnern, die mir angetan worden sind, in der Hoffnung, es könnte mich befreien. Aber jetzt bin ich sicher, dass ich dadurch alles verlieren würde, was mir wichtig ist. Seit diese Geschichte wieder in mein Leben getreten ist, gerät nach und nach alles aus den Fugen. Und je verzweifelter ich versuche, dagegen anzugehen, desto mehr verliere ich die Kontrolle darüber. Irgendetwas geschieht mit mir, in mir, und ich fürchte, es ist nichts Gutes.«
»Das bildest du dir nur ein.«
»Du hast selbst gesagt, ich hätte mich verändert. Und dass du Angst vor mir hast.«
Sie senkte den Blick.
»Diese Erinnerungen sind nicht gut für mich«, fuhr Tom fort. »Sie machen mich zu einem anderen Menschen. Zu einem Menschen, der mir fremd ist und der ich nicht sein will. Und das macht mir schreckliche Angst. Ich kann und werde nicht zulassen, dass diese Dinge ein zweites Mal mein Leben zerstören. Sie sind Teil meiner Vergangenheit. Und ich finde, dort sollten wir sie auch belassen.«
»Und was ist, wenn du dich irrst?«, fragte Karin, und ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Was ist, wenn es nicht die Erinnerungen selbst sind, die dich verändern, sondern nur die Angst davor? Du kannst dich der Vergangenheit nicht auf Dauer entziehen. Diese Rückblenden und Visionen, von denen du mir erzählt hast, sind der beste Beweis dafür. Wahrscheinlich trägst du das alles schon viel zu lange mit dir herum, und nun drängt es aus dir heraus. Es hat nur auf einen Auslöser gewartet. Ich weiß, du hasst Veränderungen, bist ihnen immer aus dem Weg gegangen. Aber Veränderungen sind nicht grundsätzlich schlecht, Tom. Sie
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