Stigma
konnte er Karin so etwas auch nur ansatzweise zutrauen?
Vielleicht um die eine Möglichkeit zu umgehen, die du noch nicht in Betracht gezogen hast, dachte er und raufte sich verzweifelt die Haare, während seine Gedanken um die entscheidende Frage kreisten: Was, wenn er selbst diese Worte geschrieben hatte?
Der Gedanke ließ ihn schaudern, doch nüchtern betrachtet war dies die einzige vernünftige Erklärung, sofern er die Existenz von Poltergeistern ausschloss. In ihm ging eine Veränderung vor, das konnte er nicht länger leugnen. Eine Veränderung, auf die er keinen Einfluss hatte, deren Symptome aber unverkennbar waren, was seinen schlimmsten Befürchtungen neue Nahrung bot. Seiner Romane wegen hatte er sich lange und ausgiebig mit dem Krankheitsbild der multiplen Persönlichkeit beschäftigt, das im Grunde eine weitere Schutzfunktion der Psyche darstellte und durch ein traumatisches Ereignis ausgelöst wurde. Dieses seltene Phänomen beschrieb die Eigenart einer Persönlichkeit, sich in zwei oder mehrere Hälften spalten zu können, die dann unabhängig voneinander im selben Körper existieren konnten. Eine faszinierende Ausgangssituation für eine Geschichte, die jedoch umso erschreckender war, wenn einem der Verdacht kam, man sei selbst davon betroffen. Seine zunehmenden Erinnerungslücken und seine nächtlichen Aktivitäten passten jedenfalls sehr gut in sein eigenes, reales Bild. Doch die Vorstellung, tief in seinem Innersten könnte ein anderer Tom Kessler existieren, dessen Charakter er nicht einzuschätzen vermochte und der ihm unheimliche Botschaften hinterließ, trieb ihm einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Blieb nur die Frage, weshalb sein anderes Ich das alles tun sollte? Und was hatte es verdammt noch mal mit der Zahl Sechsundvierzig auf sich?
Mein Gott, jetzt denkst du schon wie ein Verrückter, ging es ihm durch den Kopf. Was kommt als Nächstes?
»Tom!«
Karins Stimme ließ das Vakuum seiner Gedanken, durch das er sich den ganzen Tag über abgekapselt hatte, schlagartig in sich zusammenfallen. Er sah seine Frau mit energischen Schritten über die Terrasse auf sich zukommen. In der Hand hielt sie den Telefonhörer.
»Für dich«, sagte sie mit beherrschter Stimme, in der noch immer Groll mitschwang, den Tom seiner anhaltenden Schweigsamkeit ihr gegenüber zuschrieb. Ohne ein weiteres Wort reichte sie ihm den Hörer und ging zurück ins Haus.
Toms Gesichtszüge spannten sich, als am anderen Ende der Leitung Dorns Stimme ertönte.
»Hallo, Herr Kommissar.« Er musste sich anstrengen, damit seine Stimme nicht zitterte. »Ich hoffe, Sie haben gute Neuigkeiten. Ich könnte welche gebrauchen.«
»Ich schätze, da muss ich Sie leider enttäuschen«, erwiderte Dorn.
»Nichts Neues?«
»Nun ja, unsere Experten im Labor haben sich die Botschaft, die der Täter hinterlassen hat, mal ein wenig genauer angesehen, und sie konnten anhand der Tinte herausfinden, dass sie mit einem Drucker der Marke Epson ausgedruckt worden ist. Auf das genaue Modell konnten sie sich allerdings nicht festlegen. Fingerabdrücke waren leider Fehlanzeige. Aber damit haben wir auch nicht gerechnet.«
Toms Finger legten sich fester um den Hörer, als er an den Drucker in seinem Arbeitszimmer dachte. »Was ist mit den Jugendlichen?«
»Die Befragungen sind noch nicht abgeschlossen«, sagte Kommissar Dorn, »und die Kollegen sind noch dabei, die bereits vorhandenen Protokolle auszuwerten. Bisher haben sich keine brauchbaren Hinweise daraus ergeben. Aber das ist nicht der eigentliche Grund meines Anrufs«, fügte er sachlich hinzu.
Toms Anspannung steigerte sich zu einer düsteren Vorahnung.
»Wir haben gerade die Meldung hereinbekommen, dass heute Morgen ein weiteres Mädchen als vermisst gemeldet wurde«, fuhr der Kommissar fort. »Allerdings passen die Umstände ihres Verschwindens nicht zum Profil des letzten Opfers. Auch die Herkunft stimmt nicht überein. Daher schließen wir einen direkten Zusammenhang erst einmal aus. Trotzdem hielten wir es für besser, Sie darüber zu informieren.«
»Woher stammt das Mädchen?« Toms Stimmbänder fühlten sich an, als wären sie auf doppelte Größe angeschwollen.
»Hier aus der Gegend«, sagte Dorn. »Genauer gesagt, aus Ihrer Gegend. Sie heißt Tanja Peters.«
Toms Beine gaben nach, und er sackte auf die Knie. »Mein Gott!«, hauchte er verzweifelt.
»Kennen Sie das Mädchen?«
»Meine Frau ist mit der Mutter befreundet«, sagte er wie betäubt. »Tanja geht in
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