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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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seines Bewusstseins über ihn ergoss. Wie hypnotisiert vor Angst war sein Blick auf die fasrigen, blaugrünen Zweige der Hecke gerichtet, die sich vor seinen Augen wie von Geisterhand getrieben miteinander verwoben, verdichteten und zu etwas Neuem formten.
    Nein, flehte er in Gedanken und versuchte vergeblich, sich gegen diese neue Vision zu wehren. Er war wie versteinert. Bitte nicht! Nicht heute, nicht jetzt!
    Die Zweige hörten nicht auf ihn, schoben sich weiter ineinander, verschmolzen förmlich, bis sie eine großflächige, massive Form angenommen hatten, auf der eine lamellenartige Struktur zu erkennen war und die allmählich eine schmutzig braune Farbe annahm, als verdorrten die Triebe in Sekundenschnelle, um sich sogleich wieder in einer kompakten Holzkonstruktion zu manifestieren. Wenige Augenblicke später stand Tom vor einem dunklen Lamellenzaun, der bedrohlich vor ihm emporragte wie ein Tor, das ihm den Weg zu seinen schlimmsten Ängsten öffnete. Er zitterte am ganzen Leib, war so starr, dass es ihm schwerfiel, zu atmen.
    Bitte …!, flehte er eine höhere Macht an, in der verzweifelten Hoffnung, erhört zu werden. Lass es nicht zu … Lass es nicht erneut beginnen!
    Er konnte Stimmen hören, und einen Moment lang glaubte er, sie wären die Antwort auf sein Gebet. Doch dann bemerkte er, dass es die Stimmen von Kindern waren, die ihn anfeuerten.
    »Du schaffst das, Tom, du bist der Größte!«
    »Wir bauen auf dich, hol den Ball zurück!«
    »Ja, zeig, dass du’s draufhast!«
    »Tom! … Tom! … Tom! …«
    Er wusste, dass diese Stimmen aus seinem Kopf kamen, dass sie aus einem längst vergessenen Teil seiner Vergangenheit zu ihm sprachen. Dennoch war er der festen Überzeugung, dass ihr Ursprung hinter seinem Rücken lag. Langsam drehte er sich um.
    Sein Garten war verschwunden.
    Er war einer riesigen Wiese gewichen, deren Ausläufer sich bis an eine angrenzende Siedlung erstreckten. Graue Hochhausfassaden stiegen am Horizont wie Stalagmiten in den blauen Himmel empor. Links davon, in einiger Entfernung, erkannte Tom die vertrauten Umrisse eines Kinderspielplatzes. Er sah ein Klettergerüst und einen geräumigen Sandkasten, um den herum mehrere Holzbänke aufgestellt waren. Zu seiner Rechten konnte er ein paar vereinzelte Wohnhäuser erkennen, deren Standorte so willkürlich erschienen, als wären sie durch ein Los vergeben worden. Überall auf der weitläufigen Grasfläche waren Schilder im Boden angebracht, die sie als Baugrundstück anpriesen. Darunter prangte das Logo einer Immobilienfirma. Schon bald würde diese Spielfläche einer weiteren Wohnsiedlung weichen müssen.
    Tom sah an sich herab. Der Ball hatte sich in Luft aufgelöst. Seine Arme glänzten vor Schweiß, und seine Hände waren die eines Kindes. Er trug blaue Shorts, und seine Knie waren grün vom Gras und juckten vor Schmutz. Dicke Schweißperlen rannen ihm über die Stirn, als er bemerkte, dass ihm schrecklich heiß war. Er konnte die sengende Sonne auf seinem Gesicht spüren, und die schwüle Luft, die ihn am Atmen hindern wollte. Ihm war klar, dass dies alles nicht real war, nicht wirklich passierte. Doch sein Verstand gaukelte es ihm in einer beeindruckend detaillierten Inszenierung vor. Er erinnerte sich nicht einfach nur an diese Dinge, er lebte diese Erinnerung.
    Dann entdeckte er den Ursprung der Stimmen, die nach wie vor seinen Namen riefen. Drei Jungen und ein Mädchen. Sie standen nur wenige Meter entfernt am Rand der Wiese. Er erahnte etwas Bekanntes in ihren Stimmen und ihren Gesichtern, konnte ihnen jedoch keine Namen zuordnen. Die drei Jungen trugen kurze Sporthosen, und einer von ihnen hatte das Trikot einer namhaften Fußballmannschaft an, das ihm viel zu groß war. Sie hüpften auf der Stelle, reckten die geballten Fäuste in die Luft und riefen Toms Namen. Und er hatte augenblicklich das Gefühl, dass sie damit einen anderen Tom Kessler meinten. Einen mutigeren, einen entschlosseneren Tom. Den Tom aus einem früheren Leben. Nicht den Feigling, der hier schweißgebadet in seinem verschwundenen Garten stand und imaginäre Mächte um Hilfe anflehte.
    Das Mädchen trug Jeans, die bis zu den Knien reichten. Im Gegensatz zu den Jungs stand sie nur da und hatte die Hände vor der Brust gefaltet, als spräche sie vor Erregung ein Gebet. Ihr dunkelblondes Haar bildete im Gegenlicht der Nachmittagssonne einen feurigen Kranz, und ihre graugrünen, engelsgleichen Augen strahlten ihn bewundernd an.
    Karin, ging es Tom bei

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