Stigma
dort regungslos liegen.
Tom brauchte eine Weile, bis er begriff, was gerade geschehen war. Zu tief war sein Verstand in die Bilder eingetaucht, die ihn soeben heimgesucht hatten, und er tat sich schwer damit, diese Vision abzuschütteln und in eine Wirklichkeit zurückzukehren, die dreizehn Jahre später angesiedelt war. Jegliche Orientierungsfähigkeit schien ihm völlig abhandengekommen zu sein. Noch immer glaubte er, im Garten jenes Grundstücks zu stehen und in die Grube zu starren, die eigentlich ein Grab war. Doch die Grube war verschwunden. Auch die Rosensträucher, der Kiesweg und der künstliche Bach hatten sich in Luft aufgelöst. Und die Hecke war wieder zu seiner Hecke geworden, von der keinerlei Bedrohung mehr ausging. Kein Zaun, keine Lamellen und keine Geister aus der Vergangenheit. Er stand in seinem Garten, auf seinem Grundstück und starrte auf einen Jungen herab – seinen Jungen –, der benommen vor ihm im Gras lag und ein leises, aber durchdringendes Wimmern von sich gab. Und es war seine Hand, an der Blut klebte und in der sich ein schmerzhaftes Pochen ausbreitete. All das konnte er sich im ersten Moment nicht erklären.
Dann hörte er einen Schrei.
Verstört blickte er auf – und für die Dauer eines Atemzuges glaubte er, jenes Mädchen aus seiner Erinnerung vor sich zu sehen, dessen blonde Haare im Sonnenlicht leuchteten. Doch dann erkannte er die Panik in ihren weit geöffneten Augen – den Augen seiner Frau. Glas klirrte, als es auf den Boden der Terrasse schlug und zersprang. Ihre Haare flogen im Wind, als sie auf ihn zugerannt kam, und ihre Arme fuchtelten wild durch die Luft. Fast ohne zu bremsen, fiel Karin vor ihrem Sohn auf die Knie und tastete hektisch sein Gesicht ab.
»Mama«, wimmerte Mark, der wieder zu sich gekommen war und sich die Wange hielt.
»Was …? Was ist denn passiert?«, fragte Tom verstört, und der Klang seiner eigenen Stimme holte ihn endgültig wieder ins Diesseits zurück.
»Was passiert ist?«, schrie Karin hysterisch und starrte ihn wütend an. »Das ist passiert!« Sie deutete auf eine etwa zwei Zentimeter lange Platzwunde unterhalb von Marks linkem Auge. »Du hast ihn geschlagen, Tom! Du hast deinen eigenen Sohn blutig geschlagen, du verdammter Mistkerl!«
»Was …? Aber …« Toms Stimmbänder fühlten sich an, als hätte er eine Dosis Lidocain inhaliert. Verstört sah er auf seine pochende Hand hinunter, deren Knöchel rot angelaufen waren. »Mein Gott!«, hauchte er, als er das volle Ausmaß der Situation erkannte. »Mark!«
Er wollte sich zu seinem Sohn hinunterbeugen, der mittlerweile schrie und weinte, doch Karin schob sich schützend vor ihn.
»Rühr ihn nicht an!«, kreischte sie. »Rühr ihn nie wieder an, hast du verstanden?«
»Aber ich …«, stammelte Tom hilflos. Mit jedem Schrei seines Sohnes wurde ihm bewusster, dass er in diesem Moment vor den Trümmern seines Lebens stand. Trümmer, die bis vor wenigen Augenblicken noch ein halbwegs intaktes Familienleben gewesen waren. »Ich kann mich nicht daran erinnern … Ich hatte wieder einen Flashback, und das Erste, was ich danach gesehen habe, war Mark, wie er auf dem Boden lag. Es muss passiert sein, während ich weggetreten war. Ich könnte ihm doch niemals wissentlich …«
»Du hast es aber getan!«, schrie Karin hysterisch. »Bewusst oder unbewusst, was spielt das für eine Rolle? Sieh ihn dir an, Tom! Sieh ihn dir genau an! Ich habe dich mehr als einmal gewarnt, dass genau das passieren könnte, aber du musstest ja unbedingt deinen sturen Dickkopf durchsetzen!«
»Es tut mir leid«, flehte er.
»Nein, Tom! Keine Entschuldigungen und keine Ausflüchte mehr. Jetzt musst du allein mit den Konsequenzen leben.« Mit der Kraft einer Löwin hievte sie ihren wimmernden Sohn auf die Arme und stand auf. »Solltest du wieder zur Vernunft kommen, weißt du ja, wo du uns findest«, sagte sie entschlossen mit Tränen in den Augen. »Aber bis dahin halte ich es für besser, wenn du dich von uns fernhältst.«
Wie gelähmt sah Tom zu, wie sie ihm den Rücken zukehrte und mit Mark im Arm zur Terrasse ging, um kurz darauf im Haus zu verschwinden.
Tom stand am Fenster seines Arbeitszimmers und blickte hilflos auf die Einfahrt hinunter, wo Karin im warmen Licht der Nachmittagssonne den Wagen mit Koffern belud, die sie eilig gepackt hatte. Noch immer schien sie völlig außer sich zu sein und entschlossen, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen. Tom hatte nicht mehr versucht, sie
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