Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
Vom Netzwerk:
ihrem Anblick unvermittelt durch den Kopf. Die auffallende Ähnlichkeit mit seiner jetzigen Frau war nicht zu übersehen. Das Mädchen war zwar jünger, kindlicher und mochte höchstens zwölf Jahre alt sein, doch gewisse Merkmale waren bereits jetzt vorhanden. Die Art, wie sie die Lippen zusammenpresste, wenn sie aufgeregt war, und das winzige Muttermal neben ihrem rechten Mundwinkel. Doch das konnte nicht sein. Wenn er sich hier tatsächlich in einer seiner Erinnerungen befand, war das unmöglich. Es musste ein Zufall sein oder dieses Syndrom, von dem Dr. Westphal berichtet hatte. Falsche, indizierte Erinnerungen, die auf Wunschdenken zurückzuführen waren.
    »Tom! … Tom! … Tom!«
    Die Rufe der Jungen spornten ihn an, ließen ein Gefühl des Hochmuts in ihm aufkeimen. Trotz seiner panischen Angst und seines Wissens um das, was seine kommenden Handlungen auslösen würden, verspürte er plötzlich das jugendliche Bedürfnis, sich vor den anderen zu beweisen; ihnen zu zeigen, dass ihr Vertrauen in ihn gerechtfertigt war. Mit aller Kraft kämpfte er gegen dieses mächtige Gefühl an und zugleich gegen die Leichtsinnigkeit, die es in ihm auslöste.
    »Tu’s nicht«, sagte er vor sich hin, in der Hoffnung, sein jüngeres Ich davon überzeugen zu können, dass es der größte Fehler seines Lebens wäre, sich diesem Gefühl hinzugeben. Er wollte ihm sagen, er solle das alles vergessen und nach Hause gehen, zu seinen Eltern, seiner Familie und weiterhin der Junge sein, der er war. Unbeschwert, naiv und voller Zuversicht. Er wollte ihm sagen, wie kostbar das alles gewesen sei. Doch er begriff auch, wie sinnlos es war. Dies hier war keine Zeitreise, in der er Vergangenes ändern oder beeinflussen konnte. Er war lediglich ein hilfloser Beobachter, dazu verdammt, sein Schicksal noch einmal zu durchleben.
    Es beginnt erneut!
    Wie von einer fremden Macht gesteuert, drehte er sich um und sah wehrlos zu, wie seine Finger in den Windungen der hölzernen Lamellen nach Halt suchten.
    Sekunden später kletterte er über den Zaun.
    »Papa?«
    Es war Marks Stimme, die sich in diese Erinnerung einschlich wie ein fremdes Signal aus einer anderen Welt.
    »Papa, kommst du?«
    Zunächst ignorierte Tom die Stimme; er war zu sehr damit beschäftigt, sein jüngeres Ich daran zu hindern, weiter durch diesen Garten zu laufen, weiter auf sein Unglück zu.
    »Nein!«
    Es war nur ein Flüstern, doch es drang so unverhofft aus Toms Mund, dass es ihn beinahe selbst erschreckte. Jetzt fühlte er wieder den Ball zwischen seinen Händen, spürte, wie sie ihn vor Anspannung zusammenpressten, als wollten sie ihn zum Platzen bringen.
    »Tu’s nicht!«, hörte er sich sagen. »Geh da nicht hin!«
    Er spürte, wie er sich verkrampfte, wie seine Arme zu zittern begannen. Salziger Schweiß brannte in seinen Augen.
    »Wo soll ich nicht hingehen?«
    Marks Stimme war näher gekommen, klang nun so laut, als stünde er neben ihm. Trotzdem konnte Tom ihn nicht sehen. Er sah nur die Grube, die sich vor seinem inneren Auge auftat und deren grauenvoller Inhalt ihn wie magisch anzog.
    »Nein, nicht …«
    Sein Körper begann unkontrolliert zu zucken, wehrte sich verzweifelt gegen diese imaginäre Macht, die von ihm Besitz ergriffen hatte.
    »Papa, hör auf!«, flehte Marks Stimme. »Du machst mir Angst.«
    Toms Hände gruben sich förmlich in den Ball. Er stand am Rande der Grube, blickte in sie hinab wie in einen Abgrund.
    »Mein Gott, NICHT !«
    »Papa …?«
    Tom spürte eine Berührung am Arm …
    … und im selben Moment verflog das Vakuum seiner Vergangenheit, und Tom erwachte schlagartig aus seiner Starre. So jämmerlich und flehend seine Stimme noch vor wenigen Augenblicken geklungen hatte, so befreit schrie sie nun aus ihm heraus.
    » NEIN , DU DRECKSKERL !«
    Toms Gesicht hatte sich in eine wütende Fratze verwandelt. Aus seinen Augen blitzte blanker Hass, der nun in der verschwommenen Gestalt neben ihm eine willkommene Zielscheibe fand. Reflexartig schwang sein rechter Arm zur Seite. Den Bruchteil einer Sekunde lang hatte es den Anschein, als würde der Ball, den Tom zuvor so fest umklammert hatte, frei und schwerelos in der Luft schweben.
    Die geballte Faust seines Vaters traf Mark mit voller Wucht im Gesicht. Er wirbelte herum und wurde von den Füßen gerissen, trieb durch die Luft wie ein Stück Holz, das man gespalten hatte. Im selben Moment, in dem auch der Ball das Grün des Rasens berührte, schlug Mark bäuchlings auf den Boden und blieb

Weitere Kostenlose Bücher