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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Gegenstand, den er fixierte. Zunächst war es ihm unmöglich gewesen, sich in der gläsernen Konstruktion des Wintergartens, der ihm einen nahezu freien Blick in den Garten und zum See ermöglichte, auf einen einzigen Punkt festzulegen. Zu viele Dinge lenkten ihn ab. Die grünen Blätter der Bäume, die sich sanft im Wind wiegten. Die Boote der Angler, die die glatte Oberfläche des Sees durchschnitten. Vögel, die aus den Baumkronen aufflogen. Erst wenn man versuchte, die Welt um sich herum zum Stillstand zu bringen, bemerkte man, wie sehr sie in Bewegung war. Dennoch hatte Tom darauf bestanden, die Sitzung in diesem Raum abzuhalten. Nur hier erlebte er üblicherweise so etwas wie Entspannung, wenn er sich in seine Bücher vertiefte und sich so der Welt draußen mit all ihren Tyrannen entzog. Dieser Raum war sein gläserner Käfig, seine Raumkapsel, mit deren Hilfe er sich schwerelos durch die Realität bewegte und die es ihm gleichzeitig ermöglichte, sie auf seine Weise wahrzunehmen: als Zuschauer. Umso schwieriger erschien ihm diese Aufgabe jetzt.
    Zwei Anläufe waren bereits gescheitert (was Toms Vertrauen in das Ganze nicht unbedingt wachsen ließ), so dass der Professor es zunächst mit einer anderen Methode versuchte. Tom musste nacheinander die Muskeln in Armen, Beinen, Gesäß und Nacken fünf Sekunden lang so fest anspannen, wie er konnte. Danach folgten zehn Sekunden des Lockerlassens. Auf Anspannung folgte Entspannung. Eine gängige Methode, die speziell bei Patienten mit Angstzuständen angewandt wurde, die sich aufgrund ihrer inneren Unruhe und Zerrissenheit ohnehin sehr schwer damit taten, sich längere Zeit auf etwas zu konzentrieren. Seltsamerweise hatte das bei Tom nie fürs Schreiben gegolten. Anscheinend war das für ihn tatsächlich eine Art Therapie.
    Beim dritten Anlauf zeigte die Methode ihre Wirkung, und Tom bemerkte, wie sein Körper von einer angenehmen Schwere durchzogen wurde. Zunächst versuchte er, sich auf den Fernseher zu konzentrieren, der schräg gegenüber in seinem Blickfeld stand. Tom sah nur selten fern, doch wenn, tat er es ausschließlich hier, und es diente ihm einzig und allein zur Information. Es war seine Nabelschnur zur Welt, die er jederzeit durchtrennen konnte, was ihm das Gefühl gab, die Kontrolle zu haben. Doch der schwarze Kasten (»die Blackbox«, wie er ihn nannte) bot nur wenig Anhaltspunkte. Schließlich blieb sein Blick an der tellergroßen Uhr hängen, die auf dem flachen Bord links neben dem Fernseher stand. Sie hatte einen Rand aus gebürstetem Aluminium, in dem sich das Licht der Nachmittagssonne brach. Tom erinnerte sich, wie Karin die Uhr von einem ihrer Einkäufe mitgebracht hatte. Zunächst hatte er sich geweigert, sie hier aufzustellen. Er wollte die Zeit aus diesem Raum fernhalten, wollte nicht daran erinnert werden, wie viel ihm davon abhandengekommen war. Der Wintergarten sollte auch weiterhin der Ort bleiben, wo er sich ihr entzog. Nur Karin zuliebe hatte er schließlich nachgegeben, hatte in diesem polierten Stück Metall jedoch immer einen Fremdkörper gesehen. Eine Art Antenne, die der Hektik und den Gezeiten der modernen Gesellschaft Einlass bot. Nun jedoch war er froh darüber, denn diese Uhr sollte es ihm nun ermöglichen, die Zeit um Jahre zurückzudrehen.
    Wie gebannt starrte Tom auf den Takt des Sekundenzeigers, der mit gnadenloser Beharrlichkeit die Zeit vorantrieb, während ihn der Klang der Stimme mehr und mehr einschläferte, bis er den Eindruck hatte, dass sich der Rhythmus der Schläge verlangsamte.
    »Sie merken jetzt, wie Ihre Lider immer schwerer werden und Sie Mühe haben, sie offen zu halten«, suggerierte die Stimme weiter. »Schließen Sie nun die Augen, aber stellen Sie sich im Geiste weiterhin diesen Punkt vor.«
    Wie automatisiert folgte Tom den Anweisungen. Immer weiter tickte der Sekundenzeiger vor seinem geistigen Auge.
    »Ich werde jetzt von fünf rückwärtszählen, und mit jeder Zahl werden Ihre Arme und Beine schwerer. Sie werden tiefer und tiefer in dieser Schwere versinken, bis Sie das Gefühl haben, sich von Ihrem Körper zu lösen. Und wenn ich bei null angelangt bin, werden Sie völlig entspannt sein.«
    Tom lauschte gebannt der Stimme, die zu einer Art Lotse für ihn geworden war und ihn über die stürmische Brandung seines Verstandes hinweg zu seinem Unterbewusstsein geleitete. Alle anderen Geräusche waren ausgeblendet, und es gab nur noch diese Stimme, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderte.

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