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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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gut, Tom. Dann möchte ich jetzt, dass Sie sich an den Zeitpunkt kurz davor begeben. Bitte schildern Sie so exakt wie möglich, wie es dazu kommt und was anschließend geschieht. Lassen Sie nichts aus, auch wenn es Ihnen unwichtig erscheint. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«
    »Ja«, erwiderte Tom, während das Karussell wieder zum Stillstand kam und die Bilder Gestalt annahmen.
    Kurz darauf begann er zu erzählen …
    »Spiel ab, Tom!«
    Es war Chris, der ihm das zurief, während er sich von Ingo löste und vor das Tor stürmte. Dieses bestand aus zwei bunten Trainingsjacken, die in zweieinhalb Meter Abstand voneinander auf dem Boden lagen und als behelfsmäßige Pfosten dienten, zwischen denen Babs ein wenig unbeholfen auf und ab rannte.
    »Mach schon, Tom! Elvis ist so gut wie zuhause!«
    Tom bekam Chris’ sinnfreie Zurufe nicht mit, weil sie von Ralfs keuchendem Atem übertönt wurden, während er ihn mit einem schnellen Haken austrickste und hinter sich stehen ließ. Jetzt schien er offensichtlich Mühe zu haben, mit ihm mitzuhalten. Erst als er sicher war, den Abstand vergrößert zu haben, blickte Tom kurz zu Chris hinüber, der ihm mit wild fuchtelnden Armen zu verstehen gab, dass er frei stand. Dann flankte er die lederne Kugel in flachem Bogen vors Tor.
    Chris – der neben seinem leidenschaftlichen Temperament auch die spleenige Eigenart besaß, allen Dingen alberne Eigennamen zuzuordnen – setzte zu einem letzten Spurt an und grätschte aus vollem Lauf in den Ball, den er scherzhaft »Elvis« getauft hatte, weil er fand, dass ihn die nach vorne spitz zulaufende dunkle Maserung darauf an eine Haartolle erinnerte. Es gelang ihm gerade noch, ihn mit der Fußspitze zu berühren, woraufhin der Ball zwischen Babs’ Beinen hindurch die imaginäre Torlinie überquerte.
    »Und wieder einmal beweist Christian Dahlbeck, dass er zu den besten Stürmern der Welt gehört!«, brüllte Chris am Boden liegend, während er die Arme zu einer Siegesgeste hochreckte. »Was für ein grandioser Treffer! Die Massen jubeln ihm begeistert zu!«
    »Komm wieder runter, Chris«, keuchte Ingo und kam erschöpft neben ihm zum Stehen. Sein kupferrotes Haar kräuselte sich um seine schweißnasse Stirn herum. »Und du, Babs, du könntest dich im Tor ruhig ein bisschen mehr bewegen, dann sieht es wenigstens so aus, als ob du versuchst, den Ball zu halten.«
    Sie warf ihm aus großen, graugrünen Augen einen missmutigen Blick zu. »Du willst Bewegung?«, fragte sie und deutete mit der rechten Hand eine kurbelnde Geste an, während sich an ihrer linken langsam der Mittelfinger hob. »Hier hast du welche!«
    »Sehr witzig«, meinte Ingo verächtlich.
    »Hey, Leute!«, keuchte Ralf außer Atem und stützte sich nach Luft ringend auf seine Knie. In dem viel zu großen Eintracht-Frankfurt-Trikot, das eigentlich seinem drei Jahre älteren Bruder gehörte, sah er aus wie einer der Hauptdarsteller aus Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft. »Spart euch die Aufregung, der Treffer zählt sowieso nicht.«
    »Was?«, schrie Chris, während er sich aufrappelte und seine Brille zurechtrückte. »Und wieso nicht?«
    »Der Ball hat vorher den Boden berührt.«
    Um das Spiel »Zwei gegen zwei« ein wenig interessanter zu gestalten, hatten sie eine Variante kreiert, die Chris als »Volleykicken« bezeichnete. Diese Regel besagte, dass der Ball vor dem Torschuss vom eigenen Mitspieler kommen musste und auch den Boden vorher nicht berühren durfte. Wem es auf diese Weise zuerst gelang, fünf Treffer zu erzielen, der ging als glorreicher Sieger vom Platz.
    »Red doch keinen Stuss, du Nachthemd«, protestierte Chris lautstark. »Das war ein astreines Tor! Ich hab Elvis glatt nach Graceland befördert!«
    »Wen nennst du hier Nachthemd, Brillenschlange?«, entgegnete Ralf und trabte wütend auf Chris los, wobei ihm das schweißnasse Trikot um die Oberschenkel schlug.
    »Na, sieh dich doch mal an«, gab Chris herablassend zurück. »In dem Fetzen siehst du aus wie ein Bettnässer.«
    »Das kann ich ja gerne mal meinem Bruder erzählen, dann brauchst du keine Brille mehr!«
    »Hey«, rief Tom und trat schlichtend auf die beiden zu. »Hört auf zu streiten!«
    Sofort wichen Ralf und Chris einige Schritte zurück, warfen sich aber weiterhin missmutige Blicke zu. Dennoch startete keiner der beiden einen erneuten Versuch, den anderen anzugehen. Aus irgendeinem Grund hatten sie Respekt vor Tom, so ähnlich wie vor einem großen Bruder. Tom selbst führte

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