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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Schließlich begann sie, langsam zu zählen.
    »Fünf …«
    Augenblicklich spürte Tom, wie sich eine bleierne Schwere über seine Glieder legte, gleichzeitig war er fasziniert. Das hier funktionierte tatsächlich.
    »… vier …«
    Seine Adern schienen sich zu dehnen, und zu der Schwere gesellte sich ein wohliges Gefühl von Wärme.
    »… drei …«
    Ihm war, als würde sein Blut auf den Grund seines Körpers gezogen.
    »… zwei …«
    Sein eigenes Gewicht schien ihn tiefer und tiefer in die Polster zu drücken.
    »… eins …«
    »… null!«
    Sein Verstand war ausgeschaltet. Doch wenn er eine Berührung an seinem rechten Ohrläppchen verspüre, würde er sofort wieder aus der Trance erwachen, sagte die Stimme. Tom gehorchte stumm und speicherte diesen Befehl in seinem Unterbewusstsein ab. Er schien sich nun in einem luftleeren Raum zu bewegen, einem schwerelosen Vakuum, frei von jeglicher Entscheidungslast. Irgendwie kam ihm dieser Zustand bekannt vor, und er hatte das unbestimmte Gefühl, schon öfter hier gewesen zu sein. Hier, im Niemandsland, im Innersten seines Wesens, das ihm wie ein vertrautes Versteck vorkam. Ein Zufluchtsort, an den er vor den Widrigkeiten seines Verstandes floh.
    »Sie sind jetzt an einem sicheren Ort«, sagte die Stimme. »Ein Ort, den nur Sie betreten können. Niemand kann Ihnen hier etwas tun, und Sie können jederzeit zu diesem Ort zurückkehren, wenn Sie das Bedürfnis danach haben. Sind Sie dazu bereit, Tom?«
    »Ja.«
    »Gut, dann beginne ich nun damit, Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Wie lautet Ihr voller Name?«
    »Thomas Kessler«, hörte er sich ohne Zögern antworten. Immer noch trieb er in diesem Vakuum, in dem nur noch der warme Klang der Stimme Gewicht hatte, die fortfuhr, ihm Fragen zu stellen. Fragen nach seiner Herkunft, seinen Eltern und seiner Lieblingsfarbe. Fragen, die Tom normalerweise töricht gefunden hätte, doch er antwortete prompt und emotionslos. Es waren lediglich Daten, die er über sein Unterbewusstsein abrief wie von einer Festplatte. Eine Prozedur, die nur dem Aufbau von Vertrauen diente und ihn gleichzeitig auf den Klang der Stimme eichen sollte, ähnlich wie bei den Sensoren eines Lügendetektors.
    »Gut, Tom«, sagte die Stimme schließlich. »Wir werden uns nun zusammen auf eine Reise begeben, eine Reise in Ihre Vergangenheit. Wir werden dies behutsam tun, Schritt für Schritt, bis in Ihre Kindheit zurück, und Sie werden jede Station dieser Reise als ein neutraler Beobachter wahrnehmen und wiedergeben. Sie werden sich in Ihrem Körper befinden, das Geschehen aber in der Rolle eines Zuschauers betrachten und beurteilen. Sie werden keinerlei Schmerzen empfinden, sofern Ihnen welche zugefügt werden. Und Sie werden sich nach dem Erwachen an alles Erlebte erinnern. Haben Sie das verstanden, Tom?«
    »Ja.« Toms Augen zuckten unter den geschlossenen Lidern kurz hin und her.
    »Gut, dann wollen wir beginnen. Sie gehen nun in der Zeit zurück, zunächst nur ein kurzes Stück, sagen wir einen Tag, genau vierundzwanzig Stunden. Was sehen Sie?«
    Nichts. Absolute Schwärze.
    »Sind Sie noch da?«, fragte die Stimme.
    »Ja«, antwortete er etwas heiser.
    Eine kurze Pause.
    »Schön, Sie reisen nun weiter zurück. Zwei Tage, drei Tage … Es ist Mittwoch, der siebzehnte Mai, neun Uhr morgens. Wo befinden Sie sich?«
    Ein Test, zur Kontrolle. Das war der Morgen, an dem Tom bei Dr. Westphal gewesen war.
    Noch immer Schwärze.
    »Können Sie mich hören?«
    Wieder ein »Ja«.
    »Und Sie folgen meinen Anweisungen?«
    »Ja.«
    Eine erneute Pause setzte ein. Diesmal etwas länger.
    »Gehen Sie nun eine weitere Woche zurück. Dieselbe Uhrzeit, der gleiche Tag.«
    Wieder nichts. Kompletter Bild- und Tonausfall.
    Die Stimme versuchte es noch zwei weitere Male, bis sie an einem Zeitpunkt angekommen waren, der jetzt zwei Jahre zurücklag. Doch da war nur Dunkelheit, so schwarz, dass nicht einmal weiße Farbe sie aufzuhellen vermocht hätte.
    Die Pause, die nun eintrat, schien endlos zu dauern.
    »Tom?«
    Wieder das Zucken unter den geschlossenen Lidern. »Ja.«
    »Welcher Tag ist heute?«
    »Samstag, der zwanzigste Mai«, gab er umgehend Antwort.
    »Also gut, Tom«, sagte die Stimme und klang ein wenig ratlos. »Sie werden nun sehr weit zurückreisen, bis Sie in Ihrer Kindheit angekommen sind …«
    Plötzlich, aus tiefster Dunkelheit heraus, tauchten Bilder vor ihm auf wie auf dem Schirm eines alten Röhrenfernsehers, den man eben erst eingeschaltet

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