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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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etwas. Alle starrten stumm zu der Stelle am blauen Himmel, wo der Ball hinter dem Zaun aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Ralf wurde kreidebleich, als er das Haus dahinter betrachtete, und trat dabei unwillkürlich einen Schritt zurück, als fühlte er sich davon bedroht.
    Schließlich war es Ingo, der als Erster die Stimme wiederfand.
    »Scheiße«, murmelte er halb zu sich selbst, und dieses Mal vergaß er sogar, sich hinterm Ohr zu kratzen. »Ich fürchte, Elvis hat das Gebäude verlassen.«
    »Tor!«, schrie Chris und tänzelte wie ein Verrückter auf der Stelle. »Fünf zu vier. Lasst uns abhauen.«
    »Bist du irre?«, fauchte Ralf ihn an. »Der Ball war fast neu. Und er gehört meinem Bruder! Was soll ich ihm denn jetzt sagen?«, jammerte er. »Er bringt mich um, du Idiot!«
    Chris musterte ihn gleichgültig. »Daran hättest du denken sollen, bevor du hier den Besserwisser gespielt hast. Sag deinem Bruder doch einfach die Wahrheit: dass sein blöder Ball dran glauben musste, weil du mal wieder nicht verlieren konntest!«
    »Du bist ein Riesenarschloch, Chris, weißt du das?« Ralf schien völlig außer sich zu sein. Dicke Tränen rannen ihm die Wange hinunter, und er wandte sich verlegen von den anderen ab.
    »Hey, Mann.« Chris wirkte angesichts dieses unerwarteten Gefühlsausbruchs plötzlich ziemlich kleinlaut. »Jetzt mach dir mal nicht gleich dein Nachthemd nass, Alter. Das ist schließlich nur ein Zaun und nicht die Chinesische Mauer. Ich hol dir deinen blöden Ball schon wieder.«
    »Nein, vergiss es«, schniefte Ralf und wischte sich die Tränen weg. »Den kriegst du doch nicht zurück. Lasst uns nach Hause fahren, mir wird schon was einfallen.«
    »Was redest du denn da?«, sagte Tom. »Es braucht doch nur jemand vorne zur Straße fahren und dort an der Tür klingeln. Dann haben wir unseren Ball.«
    »Seid ihr verrückt?«, meinte Ingo, und sein rundliches Gesicht schien schlagartig blass zu werden, was sein hochrotes Ohr noch deutlicher betonte. »Wisst ihr denn nicht, wer da wohnt?«
    Alle außer Ralf sahen ihn fragend an.
    »Nein«, sagte Tom, »aber du wirst es uns bestimmt gleich verraten.«
    »Und wie ich dich kenne, wirst du dabei wie immer maßlos übertreiben«, fügte Chris abfällig hinzu.
    »Nein, echt nicht«, versicherte Ingo mit Nachdruck. »Der Kerl ist bekannt dafür, dass er nichts mehr hergibt, was einmal auf seinem Grundstück gelandet ist. Erst neulich ist Mark Lehmann was Ähnliches passiert, einem Jungen aus der Gegend. Er hat mit ein paar Freunden hier gespielt, und sein Frisbee ist über den Zaun geflogen. Sie haben dann auch an der Tür geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht.«
    »Vermutlich, weil niemand zuhause war«, mutmaßte Chris.
    »Nein, sie haben gesehen, wie der Typ sie die ganze Zeit von einem der Fenster aus beobachtet hat. Er muss ziemlich finster ausgesehen haben, hat Mark mir erzählt. Irgendwie verwahrlost. Jedenfalls hat Mark sein Frisbee nie wiedergesehen.«
    »Wie, haben seine Eltern denn nichts unternommen?«
    »Herrgott, Chris«, sagte Tom. »Niemand schaltet wegen einer Plastikscheibe einen Anwalt ein. Was hätten sie denn tun sollen, dem Kerl auflauern und ihn verprügeln?«
    »Meine Mutter hätte dem die Hölle heißgemacht.«
    »Ja, Chris, wer dich kennt, glaubt das auf der Stelle«, stöhnte Babs.
    »Na jedenfalls ist das schon ein paar Jungen aus der Gegend so gegangen«, erzählte Ingo weiter. »Und alle haben ihren Kram nie zurückbekommen. Der Typ muss mittlerweile eine ganze Sammlung von Bällen und Frisbees haben.«
    »Toll, dass du erst jetzt damit rausrückst, nachdem wir schon hundertmal vor diesem Scheißzaun gespielt haben«, bemerkte Chris verärgert.
    »Ich konnte ja nicht ahnen, dass du hier ’nen Weltrekord im Ausrasten aufstellst«, verteidigte sich Ingo. »Jedenfalls klingel ich ganz bestimmt nicht bei dem Typen. Ich sage euch, mit dem stimmt irgendwas nicht. Wahrscheinlich frisst er kleine Kinder zum Frühstück.«
    Chris gab einen zischenden Laut von sich. »Ich sag’s doch, er übertreibt mal wieder.«
    »Tut er nicht«, widersprach Ralf, der damit erneut alle Blicke auf sich zog. Er wirkte plötzlich in sich gekehrt und unsicher, beinahe schüchtern. Und die etwas arrogante Art, mit der er stets auf seinem Recht beharrte, war verflogen. Seine Freunde bemerkten diese plötzliche Veränderung und hielten sich abwartend zurück. Selbst Chris verkniff sich seine üblichen Kommentare.
    »Ich hab neulich eine Nachbarin mit

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