Stigma
hatte. Zunächst waren sie noch unscharf und hektisch, flogen an ihm vorüber wie weggeschnippte Spielkarten. Das geschah so unverhofft, dass sein Körper sich kurz versteifte, was die Stimme mit Erleichterung zu registrieren schien.
»Sie sind jetzt wieder dreizehn Jahre alt. Es ist Dienstagmorgen, der dreiundzwanzigste Juli, kurz nach dem Aufwachen. Wo befinden Sie sich?«
Das Bilderkarussell verlangsamte sich, bis es ruckartig zum Stillstand kam. »Ich bin in meinem Zimmer. Es ist dunkel, und ich ziehe das Rollo hoch.«
»Beschreiben Sie, was Sie sehen.«
»Grün«, sagte Tom. »Eine riesige Wiese, direkt hinter dem Fenster. Ein paar vereinzelte Häuser ein Stück entfernt, manche davon noch unverputzt. Es sind Ferien, und es ist ein schöner Sommertag. Ich freue mich auf meine Freunde Ralf, Chris, Ingo und Babs.«
»Weiter, Tom, beschreiben Sie Ihr Zimmer.«
»Es ist groß. Die Wände sind gerade und hell. Links von mir steht mein Bett. Die Decke ist zurückgeschlagen, das Laken ist zerknittert. Auf der Bettwäsche ist das Vereinswappen vom FC Bayern München. Ich bin ein Fan dieser Mannschaft.«
Einen Moment lang schien die Stimme zu schmunzeln. »Was sonst noch?«
»Bücher. Regale voller Bücher. Ein paar Hardcover, aber die meisten sind Taschenbücher. Einige haben tiefe Eselsohren und Falten. Ich habe sie oft gelesen. Auf der rechten Seite ist eine breite Nische. Darin steht ein Schreibtisch. Er ist unordentlich. Stifte liegen darauf herum. In der Mitte der Auflage liegt ein Schreibblock, das oberste Blatt ist halb vollgeschrieben. Dahinter stehen ein Computer und eine kleine Musikanlage. Ein paar CD -Hüllen sind auf dem Tisch verstreut. An der Wand darüber ist ein Regal. Darauf stehen mehrere Modellautos. Ich habe sie selbst zusammengebaut. Die Wände sind voller Poster. Eines davon ist ein Filmplakat: Steve McQueen in Bullitt. Das ist einer von meinen Lieblingsfilmen. Die anderen sind Bilder von Fußballspielern.«
»Gut, Tom.« Die Detailgenauigkeit der Beschreibungen schien die Stimme zu beeindrucken. »Was geschieht als Nächstes?«
»Ich verlasse das Zimmer und trete auf den Flur. Auf der linken Seite sind das Bad und das Schlafzimmer meiner Eltern. Beide Türen sind geschlossen. Ich gehe weiter. Der Flur knickt jetzt nach rechts ab. Jetzt kommt das Zimmer meiner Schwester. Ihre Tür ist offen, aber sie ist nicht da. Kurz dahinter ist die Küche. Da treffe ich meine Mutter. Sie hat ein gelbes Sommerkleid an und sieht bezaubernd aus. Ihr braunes Haar ist frisch gekämmt und fällt ihr locker über die Schultern und bis zu den Ansätzen ihrer Brüste. Sie lächelt mich an, während sie den Frühstückstisch deckt. Meine Schwester hilft ihr dabei. Sie hat noch ihr Nachthemd an, das genauso bleich ist wie ihr Gesicht. Ihre schwarz getönten Haare sind struppig, und sie schaut mich grimmig an. Sie schaut immer grimmig.«
»Wo befindet sich Ihr Vater?«
»Er schläft noch. Meine Mutter gibt mir ein Zeichen, dass ich leise sein soll, weil er erst vor wenigen Stunden von der Arbeit gekommen ist.«
»Okay, Tom, machen wir an dieser Stelle Halt und setzen unsere Reise fort.«
Das Karussell begann sich wieder zu drehen.
»Sie haben gesagt, Sie freuen sich auf Ihre Freunde.«
»Ja – Ralf, Chris, Ingo und Babs.«
»Haben Sie sich an diesem Tag mit ihnen verabredet?«
»Ja. Babs wohnt im selben Haus, drei Stockwerke über uns, Chris am unteren Ende der Straße. Ralf und Ingo wohnen in den neueren Häusern, auf der anderen Seite. Wir wollen uns dort mit ihnen treffen, um auf der Wiese Fußball zu spielen. Wir spielen oft dort. Babs interessiert sich eigentlich nicht für Fußball, und sie ist auch nicht besonders gut, deshalb stellen wir sie immer ins Tor. Sie ist halt ein Mädchen.«
»Weshalb spielt sie dann nicht mit ihren Freundinnen?«
»Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, sie mag mich.«
»Und mögen Sie dieses Mädchen auch?«
»Ja, Babs ist ein toller Kumpel. Ich mag sie sehr.«
»Das ist schön, Tom. Und nun sagen Sie mir bitte, ob sich in unmittelbarer Nähe der Stelle, wo Sie sich an diesem Tag mit Ihren Freunden treffen, der Zaun eines Grundstücks befindet.«
»Ja. Ein brauner Lamellenzaun. Er steht nur wenige Meter hinter der Stelle, wo wir unser Tor gebaut haben, damit wir nicht immer so weit laufen müssen, um den Ball zu holen.«
»Und handelt es sich dabei um den Zaun, über den Sie an diesem Tag geklettert sind?«
»Ja«, kam es ein wenig zögerlich.
»Also
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