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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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meiner Mutter über den Kerl reden hören«, sagte Ralf schließlich. »Ich konnte durch die Haustür nicht alles verstehen, aber sie war sehr aufgeregt, und ich habe gehört, wie sie erzählt hat, seine Frau hat ihn wohl vor einem halben Jahr sitzengelassen. Und es heißt, er hätte sie geschlagen. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen oder mit ihm geredet. Aber unsere Nachbarin hat erzählt, in dem Haus brennt manchmal bis spät in die Nacht noch Licht, und einmal, hat sie gesagt, hätte sie durch ein offenes Fenster Stimmen gehört.«
    »Stimmen?«, fragte Babs.
    »Na ja, so als würden zwei Leute ganz aufgeregt miteinander reden.«
    »Und woher will sie das so genau wissen?«, warf Chris skeptisch ein. »Ich meine, hat sie sich etwa nachts vor dem Haus auf die Lauer gelegt und den Kerl beschattet?«
    »Nein«, erwiderte Ralf. »Sie ist Krankenschwester und kommt oft erst sehr spät nachhause.«
    Chris nickte; diese Erklärung genügte ihm.
    »Vielleicht ist seine Frau ja wieder zurückgekommen«, meinte Babs, »und die beiden haben sich ausgesprochen.«
    Ralf schüttelte den Kopf. »Sie wird seit drei Monaten vermisst, genau wie sein Sohn.«
    »Warte mal«, meinte Babs nach ein paar Sekunden nachdenklich. »Ist das etwa der Junge, über den sie andauernd in der Schule reden? So ein kleiner Blonder, der immer mit einer roten Baseballkappe herumgelaufen ist?«
    »Ja«, sagte Ralf. »Ich glaube, er heißt Robert. Ist zwei Klassen unter mir.« Nervös spielte er an seinen Fingern. »Na, jedenfalls hat mich das ziemlich neugierig gemacht. Also bin ich neulich nach der Schule mit dem Rad zu dem Haus gefahren.«
    »Bist du lebensmüde?«, platzte Ingo heraus. »Ich glaub, du liest zu viele von deinen Comics. Was, zum Teufel, wolltest du denn da?«
    »Mich nur mal umschauen, keine Ahnung. Dachte, ich könnte was sehen.«
    »Und, hast du was gesehen?«, fragte Chris gespannt.
    »Na ja, ich hab mein Fahrrad abgestellt und versucht, in eines von den unteren Fenstern zu gucken. Dabei hab ich mir das T-Shirt an den Dornen von dieser Rosenhecke zerrissen, die vor dem Haus steht. Ich hab ganz schön geflucht, weil das Shirt neu war, und wollte gerade wieder abhauen. Und dann stand er plötzlich da.«
    »Wo?«
    »Hinter dem Fenster. Ich hab mich so erschreckt, dass ich hintenüber in die Rosen gefallen bin. Deshalb hab ich auch das Trikot von meinem Bruder an.« Er zog die kurzen Ärmel zurück, die ihm dennoch fast bis zu den Handgelenken reichten, und zeigte den anderen zahlreiche verkrustete Kratzer auf seinen Armen.
    »Scheiße«, stellte Chris fest, als er die Verletzungen betrachtete. »Das muss wehgetan haben.«
    »Hat es auch«, bestätigte Ralf und ließ die schweißgetränkten Ärmel wieder zurückgleiten.
    »Und was ist dann passiert?«, wollte Ingo ungeduldig wissen.
    Ralf stieß einen tiefen Seufzer aus. »Er hat nur dagestanden und hat mich angestarrt. Und ich sage euch, der hat direkt durch mich durchgeschaut, wie mit Röntgenstrahlen. Dann hat er auf irgendetwas an seinem Kopf gedeutet und was gesagt, aber durch das geschlossene Fenster hab ich nichts gehört. Ich konnte nur sehen, dass sich seine Lippen bewegt haben. Er sah fast ein bisschen verspielt aus.«
    Chris kaute nervös an seinen Fingernägeln. »Auf was hat er gedeutet? An seinem Kopf?«
    »Ich weiß nicht genau.«
    »Was soll das heißen? Du hast ihn doch gesehen, oder?«
    »Ja«, sagte Ralf zögernd, »aber … ich hatte solche Angst, dass ich mir in die Hose gepinkelt hab«, gestand er kleinlaut und schaute zu Boden. »Deshalb hab ich bis jetzt auch niemandem davon erzählt. Vielleicht hab ich mir das alles ja nur eingebildet.«
    »Los, sag schon«, drängte Chris. »Da war doch was, oder nicht?«
    Ralf seufzte erneut. »Ich glaube, er hatte eine rote Baseballkappe auf. Und sie war ihm viel zu klein.«
    Die Stille nach diesem Satz schien alles auszufüllen. Fast automatisch schwenkten die Blicke der fünf zu dem Zaun und dem Dach des Hauses hinüber, das sich dahinter in den blauen Himmel reckte und jetzt wie eine Festung des Grauens aussah. Tom konnte spüren, wie Babs zaghaft nach seiner Hand griff, als bräuchte sie jemanden, an dem sie sich festhalten und der sie beschützen konnte. Also erwiderte er ihren Händedruck.
    »Verdammt«, fluchte Chris schließlich und betrachtete die anderen. »Scheiß auf den Ball! Ich klingele jedenfalls nicht an dieser Tür.«
    »Ich auch nicht«, stimmte Ingo ihm zu und hob abwehrend beide Hände.
    Tom sah Ralfs

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