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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Stimme hören.«
    »Tom?«
    »Er muss direkt vor mir stehen, er klingt so nahe.«
    »Tom, wo sind Sie?«
    »Dunkelheit, die sich langsam zu lichten beginnt. Es ist angenehm kühl, und ich friere ein wenig.« Er schluckte. »Gestank … entsetzlicher Gestank …«
    »Tom, ich möchte, dass Sie diese Eindrücke ignorieren. Lassen Sie die Erinnerungen los, und kehren Sie zu Ihrem sicheren Ort zurück!«
    »Ich kann nicht.« Er flüsterte immer noch, als hätte er Angst, gehört zu werden. »Seine Stimme … Er redet mit jemandem. Ich muss zurück, ich muss wissen, wer das ist.«
    »Ich halte das für keine gute Idee, Tom. Hören Sie mich? … Tom?«
    Doch so gerne Tom dieser angenehmen Stimme gefolgt wäre, er widersetzte sich ihrem verlockenden Klang und ließ sich völlig vom Strudel der Vergangenheit mitreißen …
    Das Erste, was er wahrnahm, als er langsam wieder zu sich kam, war der entsetzliche faulige Gestank. Zunächst glaubte er, noch immer die Hand auf seinem Gesicht zu spüren, die ihm die Luft abschnitt, doch diesmal war es nur der modrige Geruch, der ihm den Atem nahm. Er keuchte und hustete, als er schließlich die Augen aufschlug. Seine Lunge rang verzweifelt nach Luft, als könne sie sich nicht ausdehnen. Ihm war speiübel, und er hatte rasende Kopfschmerzen. Dann kam die Erinnerung zurück. Die tosende Erinnerung an das, was er in dem Garten vorgefunden hatte. Und dieser Bildersturm fegte die Übelkeit und das Brummen in seinem Schädel weg und ließ nur rasende Angst zurück, deren Wucht ihn rücklings gegen die Wand drückte, vor der er anscheinend saß.
    Blendend helles Licht fiel auf ihn, brannte in seinen Augen. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich daran gewöhnt hatte. Tom erkannte eine Leuchtstoffröhre an der leicht gewölbten Decke, an der er auch einige Spinnweben ausmachen konnte. In zweien davon hingen kleine Insekten – Fliegen und etwas, das Tom für einen Nachtfalter hielt. Er konnte sehr gut nachempfinden, wie sie sich fühlen mussten, obwohl sie bestimmt schon tot waren.
    Ausgesaugt, wie von einem Vampir, ging es ihm durch den Kopf, und er wünschte sich augenblicklich, wieder das Bewusstsein zu verlieren.
    Tom schaute nach unten und stellte fest, dass er bis auf seine Unterhose nackt war. Fasriges Klebeband umschloss seine Knöchel und Handgelenke. Er saß auf einer fleckigen grauen Stoffdecke, die auf dem blanken Betonboden ausgebreitet war. Darauf waren dunkle rötliche Flecken und etwas, das wie getrockneter Schleim aussah. Ein Großteil des penetranten Gestanks schien von dieser Decke auszugehen.
    Eine Leichendecke!
    Ekel schoss in ihm empor. Verzweifelt versuchte er, von dem Stoff wegzukriechen, in den vermutlich das tote Kind eingewickelt gewesen war, das nun dort oben in dem Grab lag. Doch seine Fesseln gaben keinen Millimeter nach. Bei seinem Bemühen, sie zu lockern, hätte er beinahe den Plastikeimer umgestoßen, der unmittelbar neben ihm stand. Er war halb mit Wasser gefüllt, und Tom sah einen Schwamm, der darin trieb. Das alles ergab für ihn keinen Sinn, und so ignorierte er es vorerst. Stattdessen versuchte er, sich so gut es ging zu beruhigen, und inspizierte weiter seine Umgebung.
    Er schien sich in einem Keller zu befinden. Raue Wände aus blanken Mauersteinen umgaben ihn. Bis auf die Spinnweben an der Decke sah alles sehr sauber und aufgeräumt aus, wirkte beinahe zu ordentlich für einen Abstellraum. Rechts von ihm erkannte er einige Regale mit sorgfältig aufgereihten Farbdosen und Autopflegemitteln. Daneben war ein zweitüriger Schrank. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine breite Kühltruhe, wie Tom sie aus Supermärkten kannte, deren Kühlung leise und gleichmäßig brummte. In der Mitte der Wand war auf halber Höhe ein kleines Fenster mit weißem Kunststoffrahmen eingelassen; vermutlich führte es zu dem Schacht, den Tom im Garten gesehen hatte. Doch ebenso wenig, wie Licht durch das Glas fiel, würden seine Hilferufe durch diesen Schacht nach oben dringen. Seltsamerweise schien ihn das nicht weiter zu ängstigen. Seine Freunde wussten, dass er auf diesem Grundstück war. Wahrscheinlich hatten sie mittlerweile seine Eltern verständigt, und sein Vater würde bald mit seinen Kollegen hier auftauchen und ihn befreien. Ganz bestimmt. Es war nur eine Frage der Zeit. Er musste einfach nur ruhig bleiben und abwarten.
    Dann hörte er die Stimme. Es war nur ein Flüstern, und es kam aus der Nische zu seiner Linken. Und dort sah er ihn zum ersten Mal.

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