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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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ein Schlag. Trotzdem bewegte er sich weiter auf die Grube zu, als ginge von ihr eine düstere Anziehungskraft aus, die seinem kindlichen Verstand die letzten Zweifel daran rauben wollte, was aus diesem Erdloch hervorragte.
    Eine Hand.
    Es war eine menschliche Hand! Und sie konnte nur einem Kind gehören!
    Babs hatte recht gehabt. Alle hatten recht gehabt. Dieser Kerl war verrückt, ein Psychopath, der wahrscheinlich seine ganze Familie auf dem Gewissen hatte. Und er, Tom, stand mitten auf seinem hauseigenen Friedhof!
    Der Schock lähmte ihn, so dass er nicht einmal mehr Luft holen konnte. Er spürte ein Zittern in den Beinen, und seine Finger gruben sich krampfhaft in die Nähte des Balles, die sich plötzlich wie frische, wulstige Narben anfühlten. Salziger Schweiß lief ihm in die Augen und ließ das Grab zu seinen Füßen verschwimmen. Er musste Hilfe holen, seinem Vater davon erzählen, die Polizei verständigen … irgendetwas! Zuallererst aber musste er schleunigst von hier verschwinden!
    Doch trotz seiner Angst schien eine morbide Macht Besitz von ihm ergriffen zu haben, drängte ihn weiter auf die Grube zu, wollte ihn auch den Rest von dem sehen lassen, was sich dort verbarg. Der Hand fehlten sämtliche Fingernägel, und der Arm, zu dem sie gehörte und der wie ein steifer Ast aus der Grube herausragte, war mit tiefen Striemen und kraterähnlichen Löchern übersät. Immer tiefer glitt sein Blick, je näher er kam. Und dann …
    Mein Gott!
    In diesem Moment hörte er Schritte, das Knirschen von Kies. Zuerst dachte er, es wären seine eigenen, da er mittlerweile den Weg betreten hatte, ohne es zu merken. Doch die Schritte waren hinter ihm. Und sie kamen schnell näher.
    Noch ehe er sich aus seiner Lähmung befreien und reagieren konnte, packte ihn eine fleischige, raue Hand und legte sich auf seinen Mund. Tom atmete den bitteren Geruch von Nikotin und feuchter Erde ein, und augenblicklich fiel der Schock von ihm ab, und er gewann die Kontrolle über seinen Verstand zurück. Todesangst erfasste ihn. Der Ball glitt ihm aus den Händen und rollte auf die Grube und ihren schrecklichen Inhalt zu, änderte jedoch kurz davor seine Richtung und blieb wenige Schritte neben dem Erdloch liegen. Tom versuchte zu schreien, doch die Hand legte sich fester auf seinen Mund und erstickte jeden Laut.
    »Na, was haben wir denn da für einen neugierigen kleinen Scheißer?«, ließ sich eine Männerstimme vernehmen, die ungewöhnlich hoch und kratzig klang, fast wie die eines Kindes. »Was suchst du hier? Willst du mit uns spielen?«
    Tom trat wild um sich und versuchte, sich loszureißen. Doch der kräftige Arm des Mannes umschlang seinen Körper wie ein übermächtiger Tentakel, der seine Beute nicht freigab. Die Hand rutschte höher, legte sich jetzt auch über seine Nase, so dass er keine Luft mehr bekam. Tom versuchte hinter sich zu greifen, irgendetwas von dem Kerl zu erwischen – ein Ohr, ein Auge oder seine Haare –, ihn zu kratzen oder auf andere Weise zu verletzen. Doch der Arm des Mannes machte seine verzweifelten Befreiungsversuche zunichte.
    Mit jedem weiteren Versuch, sich aus dem Würgegriff zu befreien, wurde Tom schwächer. Verzweifelt rang er nach Luft, wünschte sich nichts sehnlicher, als eine winzige Menge der drückenden Sommerluft in seine Lunge zu saugen, doch es war unmöglich. Schon nach kurzer Zeit durchströmte eine Art Rauschen seinen Kopf, breitete sich schließlich auf seine Augen aus und tauchte die Grube vor ihm in weiße Punkte, die an ihm vorüberzogen wie Schneeflocken, deren unregelmäßige Umrisse mit jeder Sekunde anschwollen und sich dunkel färbten, bis sie sein Blickfeld mit tiefem, alles umgebenden Schwarz ausfüllten …
    »Tom … Tom! Beruhigen Sie sich!«
    Es tat gut, die Stimme zu hören. Zwar klang sie aufgeregt, gab ihm aber das Gefühl, nicht allein zu sein, hatte etwas Vertrautes in dieser Dunkelheit, etwas Tröstendes. Augenblicklich verblassten die Erinnerungen, und er entspannte sich wieder.
    »Gut so, Tom. Sie sind wieder an Ihrem sicheren Ort. Niemand kann Ihnen hier etwas tun, erinnern Sie sich?«
    »Ja.« Er keuchte noch immer. Es war ausgesprochen beruhigend, den Rhythmus seines Atems wieder zu spüren, zu merken, dass ihn nichts daran hinderte.
    »Das Ganze hat Sie sehr mitgenommen, Tom. Diese Reise war äußerst anstrengend für Sie, deshalb möchte ich, dass Sie sich jetzt ein bisschen davon erholen.«
    »Ich kann ihn hören«, flüsterte er. »Ich kann seine

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