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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Er stand mit dem Rücken zu ihm vor einer breiten Werkbank, die in die Nische eingebaut war und sich L-förmig bis zur hinteren Wand erstreckte. Er trug eine Latzhose, so ähnlich wie die, die sein Großvater immer trug, wenn er Handwerksarbeiten verrichtete, nur war diese grün und wies keine der üblichen Flecken auf, die man sonst auf derlei Kleidungsstücken erwartete. Sie sah nicht neu aus, war aber makellos. Sein dunkelbraunes, dichtes Haar war lang und zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihm bis kurz unter die Schulterblätter reichte. Trotzdem wirkte es sehr gepflegt. Keine Spur von Verwahrlosung, von der Ingo berichtet hatte. Doch auf einen Mann, dessen Keller so aufgeräumt und sauber war, dürfte so etwas auch kaum zutreffen. Abgesehen von diesem widerlichen Gestank.
    »Du musst einfach besser auf dich aufpassen, hörst du?«, drang es flüsternd zu Tom herüber. Der Mann stand leicht nach vorn gebeugt da und schien an etwas herumzuhantieren, doch wegen des Mauervorsprungs konnte Tom nicht genau erkennen, was er dort tat. Er konnte ein Zischen hören, wie von einer Sprühdose. Kurz darauf hing ein chemischer Geruch in der feuchten Luft, der jedoch nicht ausreichte, um den fauligen Gestank zu überlagern.
    »So«, meinte der Mann, dessen flüsternde Stimme ungewöhnlich sanft klang, »das wäre geschafft. Nur eines noch.« Er griff nach etwas und schien sich dann auf einen bestimmten Punkt zu konzentrieren. Wenige Sekunden später stieg eine kleine Rauchwolke hinter ihm auf. »Perfekt«, meinte er. »Ich denke, das dürfte ihn zufriedenstellen.«
    Tom erblickte eine Art Klebestreifen, der über dem Mann von der Decke hing. Dutzende toter Fliegen klebten daran. In Anbetracht des abgedichteten Schachtes fragte er sich, wie sie wohl hierhergelangt waren. Vorsichtig beugte er sich ein wenig vor, um zu sehen, mit wem der Mann redete, doch das reichte nicht aus, um hinter dem Vorsprung etwas zu erkennen. Doch er wagte nicht, sich noch mehr zu bewegen, er wollte so unauffällig wie möglich bleiben, wollte Zeit schinden. Vielleicht beachtete der Mann ihn dann nicht und ließ ihn lange genug in Ruhe, bis Hilfe eintraf, so dass er das Ganze einigermaßen unbeschadet überstehen würde.
    »Wie ich höre, bist du wieder unter uns«, sagte die Stimme des Mannes, diesmal etwas lauter. Trotzdem klang sie seltsam verstellt, irgendwie weiblich. »Dein Name ist Tom, nicht wahr?« Er drehte sich beim Sprechen nicht zu ihm um, sondern beschäftigte sich weiter mit etwas, das auf der Werkbank lag. »Deine Freunde haben ihn oft gerufen, wenn ihr vor unserem Zaun gespielt habt. Du wohnst drüben bei den Hochhäusern, stimmt’s?«
    Tom wagte nicht, etwas zu erwidern.
    »Es ist sehr unhöflich, nicht auf eine Frage zu antworten. Hat dir das deine Mutter nicht beigebracht?« Der Mann zündete sich eine Zigarette an und blies Rauch in die verpestete Luft. Anschließend hantierte er weiter auf seiner Werkbank herum. Das Klappern von Werkzeug war zu vernehmen. »Ich habe dich ein bisschen sauber gemacht. Falls du deine Sachen suchst, die habe ich entsorgt. Sie waren total verschwitzt und schmutzig. Und er mag es nicht, wenn man schmutzig ist. Er hasst Unordnung.«
    Tom schluckte, kämpfte weiter gegen den Gestank und gegen das immer stärker werdende Gefühl an, sich übergeben zu müssen. »W… wer?«, fragte er ängstlich.
    Dann sah er etwas, das er zunächst für ein Trugbild seines von Angst benebelten Verstandes hielt, für etwas, das es in Wirklichkeit nicht geben konnte. Zumindest nicht in der Wirklichkeit, die er kannte. So etwas existierte nur in Büchern oder in Horrorfilmen. Vielleicht auch in einem besonders schlimmen Alptraum, aber bestimmt nicht in der wirklichen Welt. Jedenfalls hatte er das bis jetzt angenommen. Von nun an jedoch sollte sich seine Vorstellung der Realität radikal verändern.
    Der Mann war nach wie vor an der Werkbank zugange und kehrte ihm den Rücken zu, als er plötzlich regungslos verharrte. Wie bei einer mechanisch gesteuerten Puppe richtete sich sein Oberkörper ruckartig auf, schien sich für eine Sekunde zu verkrampfen, um sich gleich darauf wieder zu entspannen. Tom sah, dass er etwas in der rechten Hand hielt, eine Art Pistole, von deren Griff ein Kabel zu der Werkbank führte. Achtlos warf er das Ding zu den anderen Werkzeugen auf den Tisch. Dann griff er mit derselben Hand nach oben und streifte sich die Haare vom Kopf, nahm sie ab, wie man sich eine Mütze abnimmt, wenn

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