Stigma
niedergeschlagene Miene, die vermutlich weniger mit seinem alptraumhaften – und nicht minder peinlichen – Erlebnis zu tun hatte als vielmehr mit der Angst vor dem Zorn seines großen Bruders. »Na schön«, sagte er und sah in die Runde. »Dann muss eben einer von uns über den Zaun klettern.«
Alle gafften ihn fassungslos an.
Tom seufzte, als er die entsetzten Gesichter seiner Freunde deutete. »Und so wie es aussieht, bin das wohl ich«, fügte er hinzu. Dann ging er, ohne zu zögern, auf den Zaun zu, während die anderen ihm in respektvollem Abstand folgten.
»Willst du das wirklich durchziehen?«, fragte Chris.
»Sag mir, wenn ich mich irre, aber wir brauchen einen Ball, um Fußball zu spielen.«
»Aber …«, setzte Chris erneut an. »Ich meine, was ist, wenn an den Geschichten was dran ist? Dann könntest du genauso gut in einen Löwenkäfig einsteigen.«
»Ich glaube, jetzt bist du es, der übertreibt«, entgegnete Tom lächelnd. »Die Leute erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Und sie entwickeln dabei eine Menge Fantasie. Glaub mir, ich weiß genau, wovon ich rede.«
»Das hier ist aber nicht eine von deinen Geschichten«, wandte Babs ein, die zwar eine aufrichtige Bewunderin seiner Schreibkünste war, im wahren Leben jedoch mit beiden Beinen fest in der Realität stand. Energisch packte sie ihn am Arm. »Findest du nicht, wir sollten deinem Vater davon erzählen? Er ist schließlich Polizist.«
Tom musste sich eingestehen, dass er sich immer mehr nach ihren Berührungen sehnte. Und obwohl diese hier keineswegs zärtlicher Natur war, war er wie elektrisiert davon und genoss ihre Nähe. Er sah in ihr Engelsgesicht, und sein Blick blieb an dem kleinen Muttermal hängen, das quasi einen Mittelpunkt zwischen ihrem Mundwinkel und dem ausgeprägten Wangenknochen bildete. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Polizei den Kerl schon längst hopsgenommen hätte, wenn all das wahr wäre, was die Leute über ihn sagen. Wahrscheinlich ist er einfach nur sauer, weil ihn seine Familie abserviert hat. Würde wohl jedem so gehen.« Er schielte auf das obere Ende des Zaunes. »Der Ball kann nicht allzu weit geflogen sein. Ich spring nur schnell rüber und bin gleich wieder da.«
Ihre Augen strahlten ihn bewundernd an, und trotz der hartnäckigen Zweifel darin war es für Tom einmal mehr ein unbeschreibliches Gefühl, sich in ihnen als Held widerzuspiegeln. Noch immer hielt sie seinen Arm. Dann zog sie ihn spontan zu sich hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Tom bemerkte, dass seine Freunde im Hintergrund grinsten und Grimassen schnitten. »Wow!« war das Einzige, was er hervorbrachte, während sein Gesicht vor Verlegenheit glühte. »Wofür war der denn?«
»Dafür, dass du dich für mich eingesetzt hast«, flüsterte sie und ging zurück zu den anderen.
»Tom steht auf Baabs«, sang Chris, während er weiter leidenschaftliche Grimassen schnitt.
»Idiot!«, erwiderte Tom.
Chris zuckte nur unschuldig die Schultern. »Hey, Mann, die Leute lieben mich, ich kann nichts dagegen machen.«
Tom wandte sich dem Zaun zu, und seine Finger suchten Halt in den Windungen der breiten Lamellen. Er glaubte, Babs’ Blick auf seinem Rücken spüren zu können. Ihr Kuss hatte jeden Zweifel ausgeräumt, hatte ihn quasi unbesiegbar gemacht. Kein Zaun der Welt würde ihn jetzt noch aufhalten können! Und während sie hinter ihm johlten und ihn anfeuerten, zog sich Tom über den Zaun und sprang dahinter zu Boden.
»Tom?«, ertönte die Stimme. »Können Sie mich hören?«
»Ja«, kam es keuchend zurück.
»Wie fühlen Sie sich, Tom?«
»Alles in Ordnung.«
»Ihre Atmung ist schneller geworden. Fühlen Sie sich in der Lage, fortzufahren?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher? Wir können eine Pause einlegen. Sie sollten nichts überstürzen.«
»Das ist nicht nötig.«
»Na schön, Tom, dann erzählen Sie weiter.«
Er duckte sich hinter einem der zahlreichen Zypressensträucher, die so angeordnet waren, dass sie das Gelände in mehrere Nischen aufteilten, und versuchte, sich zu orientieren. Gleich rechts von ihm erstreckte sich eine große Terrasse aus hellbraunem Bruchstein, die durch eine kleine Mauer in zwei Ebenen gestuft war. Auf der oberen stand eine Sonnenliege aus Teakholz neben einem kleinen Tisch. Tom malte sich aus, wie entspannend es sein musste, dort in der Sonne zu liegen und sich in ein Buch zu vertiefen. Doch zu seinem Glück war niemand zu sehen. Hätte dort jemand gelegen, wäre sein Vorhaben
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