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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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man ein Haus betritt. Zunächst dachte Tom, es sei eine ganz normale Perücke (was an und für sich schon ungewöhnlich gewesen wäre, wenn er die Länge der Haare bedachte), weil der Kopf darunter fast kahl war. Doch als der Mann sie in der Hand hielt, konnte Tom die Unterseite sehen, die aus einem glatten, beinahe lederartigen Gewebe bestand, das um die Mitte herum eine blassrosa Tönung hatte, sich nach außen hin dunkler verfärbte und an den ausgefransten Rändern beinahe schwarz war. So etwas Ähnliches hatte Tom schon einmal in einem Film gesehen, doch er konnte sich in seiner Panik nicht mehr an den Titel erinnern. Das war nur verständlich, denn was er daraus schlussfolgerte, setzte seinen Verstand außer Kraft.
    Das war keine Perücke! Es war das Haar eines Menschen. Und die Kopfhaut, aus der es einmal herausgewachsen war, hing noch immer daran!
    »Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Jungen sauber machen!«, schrie der Mann plötzlich, und seine Stimme klang jetzt wesentlich kraftvoller und männlicher als noch vor wenigen Sekunden. »Soll ich ihn etwa so seinem neuen Freund vorstellen? … Was heißt das, du kannst keine Wunder vollbringen? Du bist seine Mutter! Und als solche hast du dich um ihn zu kümmern! … Komm mir bloß nicht damit, dass ich mich beruhigen soll! Ich wünsche nur ein wenig Ordnung und Sauberkeit in diesem Haus, ist das denn zu viel verlangt?« Aufgeregt deutete er auf die Stelle an der niedrigen Kellerdecke, wo die Spinnweben hingen. »Siehst du, was ich meine?«, sagte er und wischte sie mit dem Arm weg. Anschließend deutete er damit auf den Mauervorsprung, als wolle er jemanden auf den Schmutz darauf aufmerksam machen. Doch da war niemand. »Du schaffst es ja nicht einmal, diesen Keller in Ordnung zu halten, wie kann ich da von dir verlangen, dich um meinen Jungen zu kümmern … Was? … Es ist meine Schuld, dass er so aussieht? Du warst doch diejenige, die ihn gegen mich aufgehetzt und ihn mir weggenommen hat. Und gerade du solltest doch wissen, was mit Leuten passiert, die mich hintergehen wollen. Also gib nicht mir die Schuld dafür, Weib!«
    Tom verfolgte dieses sonderbare Zwiegespräch mit zunehmendem Unbehagen. Der Mann schien mit seiner Frau zu sprechen. Mit seiner Frau, die nicht da war und die, wie Tom vermutete, auch nie wieder hier auftauchen würde. Denn er hätte darauf gewettet, dass sie dunkelbraunes, schulterlanges Haar hatte.
    »Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, ein Außenseiter zu sein, von anderen immer nur übergangen und belächelt zu werden«, fuhr er mit seinem Monolog fort. »Das wollte ich unserem Jungen ersparen. Nur deswegen habe ich ihn so hart rangenommen, habe ihm nichts durchgehen lassen. Ich konnte doch nicht ahnen … Ich meine, ich wollte doch nicht … Es tut mir so leid!« Er schluchzte, schien einem Zusammenbruch nahe zu sein. Tom registrierte diesen abrupten Stimmungswechsel mit steigender Angst und hielt es für das Beste, sich weiterhin ruhig zu verhalten. Er sah zu, wie der Mann abermals hinter den Vorsprung trat und sich über die Werkbank beugte. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er etwas in den Armen, das für Tom im ersten Moment wie eine Puppe aussah, deren Glieder schlaff herabhingen und so trocken und leicht zu sein schienen wie das Gerüst einer Vogelscheuche. Als der Mann weiter ins Licht trat, konnte Tom über dessen Schulter hinweg etwas erkennen, das wie eine Kappe aussah. Bei diesem Anblick weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.
    »Es tut mir so schrecklich leid, mein Junge«, beteuerte der Mann und streichelte dabei den Kopf der Puppe, deren blondes, lockiges Haar unter den Rändern der roten Baseballkappe hervorquoll. »Bitte verzeih mir.«
    Das kann unmöglich sein, schoss es Tom durch den Kopf; er versuchte, mit diesem Gedanken den Wahnsinn zu verscheuchen, dem er hier offensichtlich begegnete. Und als ob das alles nicht genügte, ertönte erneut die Stimme des Mannes, nun wieder hell und kratzig wie die eines Kindes.
    »Ist schon gut, Papa. Ich hab dich trotzdem lieb!«
    Tom fuhr entsetzt zusammen, als der Mann sich ruckartig umdrehte und unbeholfen auf ihn zutappte. Er kniete sich vor ihm auf den Boden, und über sein fleischiges Gesicht hatte sich ein breites kindisches Grinsen gelegt, das ihn so verrückt erscheinen ließ wie einen cracksüchtigen Clown.
    »Willst du mit mir spielen?«, fragte er. Aus seinen Augen schien nackter Wahnsinn zu strahlen. Dabei streckte er Tom die Puppe entgegen, die

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