Stigma
einmal sein zehnjähriger Sohn Robert gewesen war, die jetzt jedoch nur noch ein grotesk entstelltes Abbild von ihm darstellte. Der Leichnam befand sich bereits im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung. Teile der Haut an Stirn und Wangen fehlten und waren notdürftig mit einer glatten, silikonartigen Masse ausgebessert worden. Darüber konnte Tom eine Schicht frischer Farbe erkennen, die einen etwas zu dunklen Hautton hatte und an einigen Stellen bereits rissig wurde und abzublättern begann. Die Augen des Jungen waren eingefallen und milchig wie blindes Glas. Und seine Nase bestand nur noch aus zwei länglichen Öffnungen, die wie faulige Grotten aus seinem Gesicht ragten. Tom glaubte zu sehen, wie sich darin etwas bewegte.
Maden, fuhr es ihm unwillkürlich durch den Kopf, und augenblicklich wurde ihm klar, woher die vielen Fliegen in den Spinnennetzen und an dem Klebestreifen kamen.
Um den Mund herum war die Haut weitgehend zersetzt. Hinter den fransigen Rändern kamen gelblich graue Zähne zum Vorschein, die in schwarzen Zahnfleischresten steckten und das groteske Antlitz wie einen grinsenden Totenschädel aussehen ließen. Dort, wo früher einmal Lippen gewesen waren, konnte Tom Teile einer Zahnspange erkennen, die sich wie eine metallene Raupe durch den Mund zog und an einigen Stellen neu gelötet worden war.
In blinder Panik versuchte Tom, sich von dem Leichnam wegzustoßen, presste den Rücken gegen die raue Wand, als hoffe er, sie dadurch zum Einsturz bringen zu können. Doch es gab keine Möglichkeit, sich diesem grausigen Anblick zu entziehen. Und in seiner Angst kam es ihm jetzt beinahe so vor, als würden jene faserigen Fetzen, die einmal der Mund des Jungen gewesen waren, tatsächlich Worte formen.
»Willst du mit mir spielen?«
Toms Magen hielt dem nicht länger stand und verkrampfte sich schmerzhaft. Schließlich sackte er seitlich weg. Die Welle aus Übelkeit brach so heftig über ihn herein, dass er zu spüren glaubte, wie sämtliches Blut aus seinem Körper in seinen Kopf stieg. Erbrochenes brannte in seinem Hals und ergoss sich auf den sauberen Betonboden. Er keuchte und hustete, bis er völlig erschöpft und kreidebleich gegen die Wand rollte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, und als er die Augen wieder öffnete, starrte der Mann ihn durchdringend an. In seinem Gesicht war nun nichts Kindliches mehr, und seine Augen schienen vor Zorn zu glühen.
»Du bist genau wie die anderen«, keuchte er, und es war eindeutig, dass es ihm schwerfiel, seine Wut im Zaum zu halten. »Sie haben so ähnlich reagiert, haben sich für was Besseres gehalten. Aber sie haben alle ihre Lektion gelernt. Ich glaube, es wird Zeit, dass ich dir auch ein bisschen Anstand beibringe.«
Tom wollte gerade etwas erwidern, wollte einen jämmerlichen Versuch unternehmen, sich für sein Missgeschick zu entschuldigen, als die Hand des Mannes vorschnellte und ihn am Kopf packte. Gleich darauf lag er mit dem Gesicht in seinem eigenen Erbrochenen, rang ein weiteres Mal verzweifelt nach Luft, während er die Hand mit beinahe unmenschlicher Härte in seinem Nacken spürte.
»Du bist bei deinen Freunden sehr angesehen, nicht wahr?«, höhnte der Mann, während Toms Körper unter ihm zuckte. »Fühlst dich als ihr Anführer, der hier einfach eindringen und den Helden spielen kann. Tja, Tom, Helden sterben früh, das solltest du wissen.«
Die Hand erhöhte den Druck, presste ihn fester auf den Boden, und Tom fühlte, wie sein Nasenbein auf dem harten Beton brach wie ein vertrockneter Zweig.
»Jungs in deinem Alter meinen doch ständig, sich aufspielen zu müssen. Vermutlich hältst du dich für so unfehlbar und perfekt, dass du glaubst, andere müssten voller Ehrfurcht zu dir aufschauen, ist es nicht so?«
Toms Antwort bestand aus einem Schrei, der in einem gurgelnden Röcheln erstickte.
»Nun, Tom, wie fühlt sich das jetzt an, ganz unten in seinem eigenen Dreck zu liegen und nach Luft zu schnappen?« Er lachte hämisch. »Vielleicht bist du ja jetzt in der Lage, mir und meinem Sohn ein wenig mehr Respekt entgegenzubringen.«
Mit einem kräftigen Ruck riss er Tom wieder hoch, der keuchend Luft in seine brennende Lunge sog. Dabei atmete er Erbrochenes ein und hustete und spukte, bis er graue Punkte vor seinen Augen tanzen sah. Der kupferartige Geschmack von Blut war auf seinen Lippen. Es rann in Strömen aus seiner gebrochenen Nase, doch er spürte keinen Schmerz. Nur dieses Entsetzen, diese alles verschlingende Angst,
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