Stigma
bereits im Ansatz gescheitert, denn von dort aus konnte man den Zaun sehen. Die gläserne Schiebetür zur Terrasse war geschlossen, daher hoffte Tom auf die Abwesenheit des Hausherrn; er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand an einem solchen Tag sämtliche Fenster und Türen verschlossen hielt. Zumal alles in diesem herrlichen Garten darauf hindeutete, dass hier jemand wohnte, der jede Gelegenheit nutzte, seine Zeit im Freien zu verbringen. Tom konnte wunderschön angelegte Blumenbeete erkennen, die mit buntem Zierkies umrandet waren und mit Apfelbäumen und farbenprächtigen Stauden um die Wette blühten. Bei diesem Anblick hielt er es für völlig ausgeschlossen, dass hier jemand leben sollte, der so verbittert und unheimlich war, wie die Leute es sich erzählten. Dennoch achtete er sorgfältig darauf, nicht entdeckt zu werden.
Vorsichtig spähte er über den großflächigen Rasen, der die linke Seite des Hauses umrahmte und von einem kunstvoll angelegten Kiesweg geteilt wurde, was das Anwesen wie einen Park wirken ließ. Tom sah, dass der Zaun das ganze Gelände umschloss, bis nach vorne zur Straße, wo er mit dichtem Efeu überwuchert war und von kräftigen Sträuchern und kleinen Bäumen gesäumt wurde, die für zusätzlichen Sichtschutz sorgten. Der Besitzer schien sich die größte Mühe zu geben, diese Oase vor den Blicken anderer zu verbergen. Zwischen zwei der Zypressensträucher stand eine kleine Holzbank, hinter der ein breites Rankgitter stand, das von prächtigen roten Rosen bedeckt war. Dicht dahinter entdeckte er den Ball. Er lag am Fuß eines kleinen Springbrunnens, von dem ein künstlicher, von Steinen gesäumter Bach wegführte, knapp sechs Meter von ihm entfernt. Vermutlich hatte einer der Bäume den Flug des Balles gebremst.
Vorsichtig verließ Tom seine Deckung und lief zu der Stelle. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn, als er Elvis in den Händen hielt. War doch ein Kinderspiel. Draußen vor dem Zaun konnte er noch immer die Rufe seiner Freunde hören.
Er war bereits wieder auf dem Rückweg, als er aus den Augenwinkeln etwas entdeckte, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Der Kiesweg endete an einem seitlichen Nebeneingang des Hauses, dessen Tür einen Spaltbreit nach innen geöffnet war. Sofort duckte Tom sich neben den Brunnen, der ihm jedoch keinen ausreichenden Schutz bot. Dennoch verharrte er in dieser Stellung, aus Angst, jede weitere Bewegung könnte ihn möglicherweise verraten. Hektisch ließ er den Blick über die seitliche Fassade des Hauses und die Fenster dort gleiten, aber er konnte hinter den Scheiben niemanden entdecken. Doch noch etwas fiel ihm auf. Neben der Tür befand sich ein Kellerschacht, aber das Gitter darüber war mit gut sechs Zentimeter dickem Styropor abgedeckt, das wiederum durch eine massive Holzplatte und einige Steine beschwert wurde. Eine Art Schallschutz, nahm Tom an. Aber was sollte er dämpfen? Handwerkerlärm? Musik?
Schreie?
Er konzentrierte sich auf den vorderen Bereich des Anwesens. Dort, wo sich der Brunnen befand, stieg der Boden etwas an, deshalb war es ihm von seinem vorherigen Standort aus nicht möglich gewesen, diesen Teil des Gartens einzusehen. Jetzt jedoch konnte sein Blick dem Verlauf des Weges folgen, der wenige Meter hinter dem Brunnen eine Rechtskurve beschrieb und schließlich in eine breite Einfahrt überging, die zu einem Carport führte, unter dessen flachem Dach ein roter Kombi parkte. An der Wegbiegung konnte Tom unweit des Zaunes einen Haufen frisch ausgehobene Erde erkennen. Gleich daneben, zwischen zwei weiteren Zypressensträuchern, war eine etwa eineinhalb Meter breite Grube. Normalerweise hätte er dieser Entdeckung keine weitere Bedeutung zugemessen. Doch aus dem hinteren Teil der Grube ragte etwas empor, das nicht wie der zarte Trieb eines neuen Baumes oder Strauches aussah. Es glitzerte feucht in der tiefer stehenden Sonne. Da diese ihn inzwischen blendete, beschloss er, seinen Standort etwas zu verlagern, um bessere Sicht zu haben. Von brennender Neugier überwältigt, folgte Tom parallel dem Verlauf des Weges, ohne an Deckung zu denken. Als er schließlich die Biegung erreicht hatte, verlangsamte er seine Schritte, und sein Verstand begann allmählich zu realisieren, was er dort sah.
Seine Neugier, die ihn soeben noch sämtliche Vorsicht hatte vergessen lassen, verwandelte sich augenblicklich in nacktes Entsetzen. Die Erkenntnis, in welcher Gefahr er sich aufgrund dieser Entdeckung befand, traf ihn wie
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