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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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die durch das Adrenalin in seinem Blut aufgepeitscht wurde wie ein Sturm durch eine Schlechtwetterfront.
    »Tja, sieht aus, als wärst du jetzt nicht mehr ganz so perfekt«, sagte der Mann und erhob sich zufrieden.
    Durch den Schleier aus Erbrochenem hindurch konnte Tom erkennen, dass der Mann jetzt vor den breiten Türen des Schrankes rechts neben den Regalen stand. »Hören Sie«, keuchte er verzweifelt, und seine Stimme war nicht mehr als ein atemloses Fiepen. »Es tut mir leid, dass ich Ihren Keller schmutzig gemacht habe. Das war keine Absicht, wirklich nicht. Ich bringe das wieder in Ordnung, versprochen.«
    »Oh ja, das wirst du«, sagte der Mann. »Ganz bestimmt sogar. Aber zunächst einmal sollst du etwas lernen.« Er öffnete die Türen und kramte in dem Schrank herum. Tom konnte einige Gegenstände darin erkennen. Im unteren Bereich, der den größten Teil einnahm, standen Schrubber und mehrere Eimer. Daneben ein Nasssauger. Der Kerl schien tatsächlich einen Sauberkeitsfimmel zu haben. Den oberen Bereich konnte Tom nicht einsehen, darunter jedoch waren mehrere verschieden große Bälle nebeneinander aufgereiht wie Trophäen, ordentlich nach Größe sortiert. Gummibälle, Lederbälle, sogar ein Federball war darunter. Ganz außen entdeckte er Elvis, die neueste Errungenschaft dieses Irren. Im Fach darunter stand ein Einmachglas, wie es seine Mutter früher für selbst gekochte Marmelade verwendet hatte. Nur war dieses hier viel größer. Es war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt und mit einem roten Gummiring luftdicht verschlossen. In der Flüssigkeit trieb etwas Massiges. Tom wischte sich mit den gefesselten Händen die Reste des Erbrochenen aus dem Gesicht, um besser sehen zu können. Zunächst konnte er nicht erkennen, worum es sich handelte, da der Mann das Glas halb mit seinem Körper verdeckte. Angesichts dessen, was er bis jetzt hier erlebt hatte, beschlich ihn jedoch eine grauenhafte Ahnung, was sich darin befinden könnte. Und als der Mann sich schließlich abwandte und ihm die Sicht auf das Glas freigab, wurden seine schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen.
    Toms Herz setzte einen Schlag lang aus, als er in die zwei Augen blickte, die ihn durch das Glas betrachteten. Ihr fester Blick wirkte so natürlich, als wären sie noch lebendig. Er sah feines, blondes Haar, das zu steifen Zöpfen geflochten war und nie wieder von einer Mutter gekämmt werden würde. Und er sah den hilflosen Ausdruck auf dem jungen Gesicht, dem für immer die Unschuld geraubt worden war.
    Tom schluckte, und sein Magen wurde steinhart, schien sich auf die Größe eines Kiesels zu verkrampfen. Sie kommen gleich war sein einziger Gedanke, als er starr vor Schrecken den Kopf in dem Glas betrachtete. Sie werden jeden Moment da sein und dich hier rausholen. Gleich ist es so weit, ganz bestimmt.
    Er sah in die toten Augen des Mädchens, aus denen jegliche Hoffnung gewichen war, und ihm kam ein schrecklicher Gedanke.
    Wahrscheinlich hat sie das auch gedacht.
    »Ja, sieh sie dir ruhig an, mein Junge«, sagte der Mann, als er Toms verängstigten Blick bemerkte. »Das ist die Strafe dafür, wenn man sich dem Wächter widersetzt.« Er zog eine Verlängerungsschnur aus dem Schrank. Dann verharrte er und blieb wie angewurzelt davor stehen. Seine Hand zuckte empor und streichelte langsam über das Glas. »Sieh nur, wie friedlich sie jetzt ist«, sagte er, und es klang wieder sanft und fürsorglich. Er seufzte zufrieden, und sein Blick schien entrückt, als befänden sich seine Gedanken an einem weit entfernten Ort. »Weißt du, ich wollte immer noch eine Tochter haben. Aber nachdem meine Frau mich …« Er schluckte, schien gegen Tränen anzukämpfen. Noch immer streichelte er das Glas, als wäre es ein Haustier. »Und als ich sie vor dem Kindergarten gesehen habe, da konnte ich nicht widerstehen. Sie sah so … hübsch und unschuldig aus in ihrem rosa Kleidchen und mit den blonden Zöpfen. Wie ein kleiner Engel.« Ein zärtliches Lächeln machte sich auf einem roten, von Schweiß glänzenden Gesicht breit. »Ich wollte doch nur, dass wir eine Familie sind, nichts weiter. Weißt du, ich … ich bin mir so verlassen vorgekommen. So allein.« Eine kleine Pause entstand. Der Mann starrte auf den kleinen Mauervorsprung neben der Werkbank. »Ich hatte eine Familie. Aber es war nicht immer leicht. Sie … sie waren einfach nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. So eigenwillig und so … Sie haben mich manchmal wütend

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