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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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gemacht, verstehst du?« Wieder dieses Seufzen. Er schien völlig aufgelöst zu sein. »Jetzt sind sie alle weg, sie haben mich im Stich gelassen. Und ich hasse dieses Gefühl, diese schreckliche Einsamkeit, ich komme einfach nicht damit klar. Ich fühle dann immer diese Leere in meinem Kopf, die mich vollkommen ausfüllt. Und dann …« Er fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. »Dann kommen mir diese Gedanken. Böse Gedanken. Ich kann nichts dagegen tun, sie sind einfach da, ergreifen Besitz von mir wie ein Dämon. Ich dachte, ich könnte diese Gedanken verscheuchen, indem ich …« Wieder betrachtete er das Glas in dem Schrank, begann es erneut zu streicheln. Dann verschwand der verträumte Gesichtsausdruck, und die Härte in seinen Augen kam wieder zum Vorschein. »Aber es war nicht dasselbe. Sie hat sich gewehrt, hat immerzu nach ihrer Mutter geschrien. Sie war einfach nicht zu beruhigen, hat ständig versucht wegzulaufen. Das konnte ich doch nicht zulassen.«
    Dicke Schweißperlen rannen wie Tränen über seine Wange, und Tom schien es, als wäre das der Wahnsinn, der aus seinen Poren quoll.
    »Gott ist mein Zeuge, ich habe wirklich alles versucht, um ihr Disziplin beizubringen.« Seine Stimme nahm wieder diesen knappen militärischen Unterton an. Ruckartig zog er die Hand von dem Glas weg. »Aber sie hat einfach nicht auf mich gehört, musste ständig ihren Dickkopf durchsetzen. Sie hat es nicht anders gewollt«, stellte er fest und schlug wütend die Schranktüren zu. »So gefällt sie mir besser!« Er schnappte sich die Verlängerungsschnur und ging zu der Werkbank zurück, wo er eilig begann, Kabel umzustecken. »Danach habe ich es mit anderen versucht. Aber es war immer dasselbe. ›Ich will nach Hause … Ich will zu meiner Mama … Bitte lassen Sie mich gehen‹, äffte er die Stimmen der Kinder nach. Stimmen, die ungehört hier unten verhallt waren. »Sie haben ständig nur geheult und hier alles schmutzig gemacht, haben sich meinen Anweisungen widersetzt. Und das tut niemand ungestraft.« Blitzartig fuhr er herum und kam aufgebracht auf Tom zugestapft. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske des Zorns. »Niemand widersetzt sich dem Wächter, hörst du, NIEMAND !«, schrie er wie besessen, und Tom zog furchtsam die Beine an, kauerte sich noch dichter an die Wand. Er war sicher, jeden Moment geschlagen und getreten zu werden, und war nur noch ein zitterndes Bündel aus Angst.
    Doch der Mann schien sich zu beruhigen, zog sich wieder in seine Nische zurück und zündete sich abermals eine Zigarette an. »Tja, und nun bist du gekommen«, sagte er, während Rauch aus seiner Nase und seinem Mund strömte wie bei einem Feuer speienden Drachen. »Bist hier einfach so reingeschneit und hast meine Pläne durcheinandergebracht, mich bei meiner Arbeit gestört. Aber ich betrachte das als einen Wink des Schicksals. Vielleicht will es mir damit andeuten, dass ein Junge gefügiger ist. Aber bevor wir das herausfinden, erkläre ich dir lieber gleich, was passiert, wenn du dich meinen Anweisungen widersetzt.« Er zog ein weiteres Mal an seiner Zigarette, dann drückte er sie aus. Anscheinend brauchte er jetzt beide Hände. »Kennst du die Aufgaben und Pflichten eines Wächters, Tom? Sie sind in etwa vergleichbar mit denen eines Vaters. Man bewacht das Eigentum und die Menschen, die einem anvertraut worden sind, und beschützt sie vor jeglichen Gefahren. Das verlangt eine Menge Verantwortungsgefühl, das kannst du dir bestimmt vorstellen. Und ein gehöriges Maß an Autorität. Man befolgt seine Anweisungen, oder man lernt die Konsequenzen kennen. Ein Wächter ist eine Respektsperson, mein Junge. Also hat er auch das Recht, Respekt zu lehren.« Er drehte sich zu Tom herum und kam langsam auf ihn zu. In der Hand hielt er den pistolenartigen Gegenstand, von dessen Griff das Verlängerungskabel zur Wand über der Werkbank führte. »Nun, ich bin ein Wächter, Tom«, verkündete er und kniete erneut vor ihm nieder. »Und du wirst sehen, ich bin der Beste!«
    Toms Augen wurden riesengroß vor Entsetzen, als er den Gegenstand erkannte, der sich ihm jetzt unaufhaltsam näherte. Er hatte im Keller seines Großvaters selbst schon damit gearbeitet. Gedanken rasten wie Lichtblitze durch seinen Kopf, und im ersten Moment hielt er sie für Gebete. Doch dann erkannte er ihren wahren Charakter. Es waren Versprechen, Gelübde sich selbst gegenüber. Dinge, wie Erwachsene sie manchmal an einem Silvesterabend versprachen.

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