Stigma
Vorsätze für ein besseres Leben. Wenn er das hier überstehen sollte (und zum ersten Mal zweifelte er ernsthaft daran), schwor er sich, dann würde er sich nie wieder in den Vordergrund spielen, würde nie wieder der Versuchung nachgeben. Er war kein Held, denn Helden wussten immer einen Ausweg. Aber das hier war kein Film, und er war nicht Steve McQueen. Er war nur Tom Kessler, der Musterschüler. Tom, der einfache Junge, der sich gerne Geschichten ausdachte. Tom, der Todesängste ausstand! Und dieser Tom würde sich nie wieder über seine Schwester beklagen oder seiner Mutter widersprechen. Er würde sich nie wieder über Chris’ dumme Sprüche ärgern. Das alles erschien ihm plötzlich viel zu kostbar, zu einzigartig. Doch ihm war auch klar, dass diese Einsichten ihn nicht retten konnten. Und es würde auch niemand kommen, um ihn zu befreien. Jedenfalls nicht rechtzeitig. Dieser Alptraum würde weitergehen, ganz gleich, wie sehr er sich läuterte. Der Wahnsinn folgte seinen eigenen Grundsätzen.
»Warten Sie, bitte!«, schrie er verzweifelt, als ihm klar- wurde, was ihn nun erwartete. Er spürte den warmen Urin, der seine Unterhose und die Decke zwischen seinen Beinen tränkte. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle dafür entschuldigt, um nicht bestraft zu werden. Tränen der Angst schossen ihm in die Augen, und er brachte nur noch ein wimmerndes Flehen zustande. »Sie brauchen das nicht zu tun! Ich verspreche, ich mache alles, was Sie wollen, aber bitte tun Sie mir nicht weh!«
Über das Gesicht des Mannes hatte sich erneut dieses irre Grinsen gelegt, und Tom konnte gerade noch eine der Spinnen erkennen, die über den dicht behaarten Arm krabbelte, der ihr Zuhause zerstört hatte und der nun auf ihn niederfuhr. Dann spürte er, wie die Spitze des Gegenstandes auf sein schweißnasses Bein gepresst wurde und ein widerliches Zischen ertönte.
»Willst du mit mir spielen?«
Tom schrie, wie er noch nie zuvor geschrien hatte, als sich die glühende Spitze des Lötkolbens in das Fleisch seines Oberschenkels brannte. Der Schmerz war unerträglich, durchfuhr sein Bein mit der Wucht einer Explosion, deren Energie nicht zu versiegen schien und sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Wieder und wieder fuhr der Kolben auf ihn herab, brandmarkte ihn wie Vieh.
»Willst du mit mir spielen?«
Er hörte das Kreischen des Mannes noch, als wieder Punkte vor seinen Augen zu tanzen begannen und er erneut in jenes tiefschwarze Nichts hinabglitt, das er nun als willkommene Erlösung betrachtete …
»Tom!«, drang die Stimme erregt zu ihm durch, doch dieses Mal schien sie nicht allein zu sein. Da waren auch wieder die anderen Stimmen. Nicht konkret, nicht greifbar, aber sie waren da, schwirrten umher wie Blätter, die von einem Windstoß erfasst wurden. Dann spürte er einen stechenden Schmerz in seinem Bein, doch das war unmöglich. Er war hier an seinem sicheren Ort, wo ihm niemand etwas tun konnte, wo nur die Stimme Macht über ihn hatte. Und hier würde er keine Schmerzen spüren, hatte sie gesagt. Also, was zum Teufel …
»Sie müssen aufwachen, Tom … Wachen Sie auf!«
Er fühlte, wie die Anspannung von ihm wich, wie seine Glieder wieder schwerer wurden und ihm die Sinne schwanden. Dann ein Schrei … Poltern, wildes Getrampel. Den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte er, eine sanfte Berührung an seinem Ohr zu spüren.
Dann war alles wieder schwarz.
Der Nebel lichtete sich nur langsam. Er war geblendet, wie vom Blitz einer Kamera. Dann grelle Bilder, die schnell Farbe annahmen.
Da waren seine Hände, fest um den Hals eines Menschen geschlungen. Da waren Augen, die ihn voll panischer Angst anstarrten. Und das Gesicht, zu dem sie gehörten, sah bläulich und geschwollen aus. Aus dem geöffneten Mund drang ein grunzendes Röcheln. Dazwischen immer wieder eine Stimme, der es kaum gelang, verständliche Worte zu bilden. Worte, die so verzweifelt klangen wie die eines Sterbenden.
»Tom … nicht … Wachen Sie auf, Tom … bitte …«
Tom kniete auf den Schultern des Professors, presste ihn zu Boden. Noch immer spürte er seine Berührung am rechten Ohr – Finger, die verzweifelt daran rieben wie an einer Wunderlampe –, während sich Toms Finger immer fester um den pochenden Hals des anderen schlossen. Einen flüchtigen Moment lang konnte er die ungezügelte Kraft in seinen Händen spüren und die Wut, aus der diese Kraft erwuchs. Dann verblassten diese Empfindungen schlagartig, und seine Hände
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