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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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das allein war keine Rechtfertigung für sein Verhalten. Es war richtig, was Dr. Westphal gesagt hatte. Er musste endlich aufhören, für alles eine Entschuldigung zu suchen. Und vielleicht war das ihre Art, ihm das klarzumachen.
    An diese Form der Therapie könnte ich mich glatt gewöhnen, dachte er.
    Er ging weiter durch den Keller, bis er den Waschraum erreicht hatte. Dort machte er das Licht an, da die Schächte der beiden schmalen Fenster den Raum nur unzureichend erhellten. Um die Waschmaschine herum hatten sich bereits mehrere Körbe voller schmutziger Wäsche angesammelt. Das meiste davon gehörte Mark. Karin hatte in der Eile vermutlich nicht daran gedacht, die Sachen mitzunehmen, weshalb er immerhin damit rechnen konnte, dass sie noch einmal zurückkam, um sie zu holen. Das wäre wahrscheinlich seine letzte Gelegenheit für eine Aussprache.
    »Als Erstes solltest du anfangen, den Tatsachen ins Auge zu sehen«, murmelte er vor sich hin. »Sie kommt nicht zurück. Finde dich damit ab!«
    Als hätte er das damit bereits getan, drehte er sich um und ging weiter zu der Kühltruhe, die rechts im hinteren Teil des Raumes stand. Kurz davor blieb er stehen und betrachtete sie ausgiebig.
    »Heute keine Gliedmaßen?«, stellte er mit gespielter Überraschung fest und hätte beinahe über diese makabere Bemerkung gelacht. Es schien tatsächlich ein Umdenken in ihm stattzufinden, wenn es ihm bereits gelang, Witze über sich selbst zu reißen. Amüsiert schüttelte er den Kopf, als er, ohne zu zögern, den Deckel der Truhe öffnete.
    Der Schock traf ihn wie eine Gewehrkugel.
    Blitzartig schreckte er zurück, als hätte sich seine Hand an der Truhe verbrannt. Die Tüte mit den Lebensmitteln entglitt seinen kraftlosen Fingern, während er wie paralysiert den kleinen Körper betrachtete, der dort zwischen tiefgefrorenem Gemüse und Eiscreme lag. Das Bild raubte ihm augenblicklich den Atem und erstickte den instinktiven Impuls zu schreien. Bleierne Schwere legte sich über seine Muskeln, ließ sie ebenso erstarren wie die eisigen Glieder des Kindes, das dort in seiner Kühltruhe lag wie ein tiefgefrorenes Sakrileg seines Verstandes.
    »Nein!«, schrie er auf und schüttelte heftig den Kopf. »Das kann nicht sein … das ist unmöglich!«
    Verzweifelt kniff er die Augen zu, in der Hoffnung, dass sich dieser grauenhafte Anblick als eines seiner üblichen Trugbilder entpuppte. Doch als er sie wieder öffnete, lag Tanja Peters’ Leichnam noch immer dort. Kristallisierte Edelsteine aus Blut schimmerten dunkel im Inneren der tiefen, klaffenden Wunde an ihrem Hals. Eine dünne Schicht aus winzigen Eiskristallen hatte sich über ihre bläuliche Haut und ihre Kleider gelegt wie ein frostiger Kokon. Und in ihren offenen Augen, die ausdruckslos auf ihn gerichtet waren wie die einer Puppe, lag ein mattes Glitzern, als hätte jemand Puderzucker daraufgestreut.
    Willst du mit mir spielen?
    Tom riss die Hände hoch und hämmerte gegen seine Schläfen in dem verzweifelten Versuch, diese Stimme aus seiner Vergangenheit endgültig zum Schweigen zu bringen. Doch sie antwortete nur mit einem schrillen Lachen, das schadenfroh durch seinen pochenden Schädel hallte.
    Er taumelte einige Schritte zurück, wie ein Betrunkener, der die Orientierung verloren hatte. Schließlich stolperte er über einen der Wäschekörbe und stürzte rücklings zu Boden. Benommen vor Angst blieb er dort liegen und starrte zitternd auf die Truhe, deren Deckel offen an der Wand lehnte und jetzt wie die Verschlussplatte eines Sarkophags aussah. Erst jetzt bemerkte er die Schrift auf der Innenseite. Sie war mit Blut geschrieben.
    Tanjas Blut!
    Das Bild pulsierte vor seinen Augen, als er die Zahl betrachtete, die fast das ganze Ausmaß des Deckels in Anspruch nahm und sich dunkelrot von dem weißen Hintergrund abhob wie eine dämonische Inschrift: 46!
    » NEIN !«
    Das Lachen in seinem Kopf steigerte sich zu einem Kreischen. Mit Schrecken stellte er fest, dass das Licht an der Decke schlagartig greller wurde, als würde jemand den Strom hochfahren. Gleichzeitig glaubte er zu spüren, wie sich die Luft um ihn herum verdichtete.
    »Tom? Ist alles in Ordnung?«, hallte Dr. Westphals besorgte Stimme durch den Kellerflur. Sie kam näher, doch Tom kam es so vor, als ob sie sich mit jedem Schritt weiter von ihm entfernte. Er hörte noch ihren Aufschrei, als sie ihn erreichte. Dann verklang die Stimme im Nichts, wurde von seiner Wahrnehmung ausgeblendet. Nur noch dieses furchtbar

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