Stigma
sagte der Wächter in seinem strengen Befehlston, während er zu der stählernen Tür eilte, die auf der Innenseite ebenfalls dick mit Styropor verkleidet war. »Und wage ja nicht, auf dumme Gedanken zu kommen, sonst nehme ich mir auch noch das andere Bein vor!« Dann schlug er die Tür zu und schloss zweimal von außen ab.
Tom lauschte gespannt den Geräuschen, die gedämpft zu ihm hereindrangen. Das leise Knarren der Treppe; die Schritte des Wächters, die sich entfernten. Abermals glaubte er, das Läuten der Türglocke zu hören, war sich aber nicht ganz sicher, ob er sich das vielleicht nur eingebildet hatte.
Weshalb klingeln sie überhaupt? Wieso treten sie nicht einfach die verdammte Tür ein?
Falls es tatsächlich die Polizei war, die dort vor der Tür stand, würde der Kerl sie wohl kaum hereinlassen. Vermutlich stand er wieder an irgendeinem Fenster und beobachtete sie, bis sie wieder abzogen.
Der instinktive Drang zu schreien oder irgendwie auf sich aufmerksam zu machen, war so allmächtig, dass es Tom beinahe übermenschliche Kraft kostete, ihn zu unterdrücken. Doch er zwang sich eisern dazu, stillzuhalten und abzuwarten; mit dem Knebel im Mund würde ihn ohnehin niemand hören. Stattdessen setzte er seine ganze Hoffnung auf die Entschlossenheit seiner Retter. Doch die hatten es allem Anschein nach nicht sonderlich eilig, denn er hörte nichts mehr. Die Stille, die sich über den Raum gelegt hatte, schien jede Hoffnung zu ersticken, so dass er das Geräusch von splitterndem Holz oder berstendem Glas förmlich herbeisehnte.
Kommt schon, na los! Tut doch irgendwas!
Das Taschentuch in seinem Mund saugte den Speichel auf und wurde mehr und mehr zu einem nassen Klumpen, der unangenehm gegen seinen Rachen drückte. Wieder musste er würgen, und der Gedanke daran, dass das Tuch bereits benutzt worden war, ließ den Brechreiz noch stärker werden. Das Atmen durch die geschwollene Nase fiel ihm schwer. Ein leises Pfeifen ertönte bei jedem Atemzug, deshalb hielt er die Luft an, um in der Stille, die ihn umgab, jedes Geräusch aufzufangen.
Hörte er tatsächlich entfernte Stimmen, oder war das nur Wunschdenken?
Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als er wieder das Knarren der Treppe hörte. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, als das Schloss mit zwei schnellen Drehungen entriegelt und die Kellertür aufgestoßen wurde.
Tom stieß enttäuscht die angestaute Luft aus, als er die massige Gestalt des Wächters erblickte, die den ganzen Türrahmen ausfüllte. Die Hoffnung, die er kurze Zeit gehegt hatte, wurde augenblicklich unter einer Lawine aus Angst begraben, als er sah, dass der Wächter wieder das Haar seiner Frau auf dem Kopf trug. Schäumend vor Wut kam er auf ihn zugestapft, und mit jedem seiner Schritte wuchs Toms Panik. Sein Atem ging schwer und stoßweise, und das Pfeifen in seiner Nase wurde immer schriller.
Der Schlag traf ihn so hart, dass er seitlich wegkippte und auf den Betonboden knallte. Dabei stieß er den roten Eimer um; Wasser und Erbrochenes verteilten sich um ihn herum.
»Das ist alles deine Schuld!«, schrie der Wächter, wieder in jener hohen, schrillen Stimmlage, die wohl der einer Frau gleichen sollte, sich aber anhörte wie Kreide, die über eine Tafel quietschte. »Sieh mich an!«
Er packte Tom und zerrte ihn wieder hoch. Dann riss er ihm mit einem Ruck das Klebeband vom Mund, so dass seine Lippen aufrissen. Anscheinend hoffte er, ihn schreien zu hören, doch Tom tat ihm den Gefallen nicht, was den Mann noch wütender machte.
»Sie sind weg. Aber sie kommen wieder, das ist sicher. Und sie werden hier alles durchwühlen, werden uns alles kaputt machen. Und daran bist nur du schuld!« Seine Nasenflügel blähten sich wie die Nüstern eines Pferdes. »Was musstest du auch deine neugierige Nase über unseren Zaun stecken? Ich lasse mir meinen Sohn nicht wegnehmen, verstehst du? Nicht meinen Sohn!« Der Wächter schüttelte ihn heftig. »Sieh mich an!«, schrie er erneut.
Tom hustete den nassen Knebel heraus. Er hatte Mühe, die Augen auf einen bestimmten Punkt zu fokussieren; er war noch viel zu benommen von der Wucht des Schlages. Nur undeutlich nahm er die verzerrte Fratze seines Peinigers wahr, die wie ein nebliger Alptraum über ihm schwebte. Und in diesem Moment, in dem er sich beinahe schwerelos fühlte, spürte er, wie die Kraft der Wut in ihm stärker wurde, wie sie alle Ängste ausschaltete und ihn sämtliche Vorsicht vergessen ließ. Sie übertrumpfte die
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