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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Kehlkopf in zwei Hälften spaltete. Zum ersten Mal fühlte er Wut in sich aufsteigen, Wut über so viel Sinnlosigkeit. Doch sie war nicht stark genug, seine Angst zu besiegen und sich gegen seinen Peiniger zu richten. Also schluckte er seinen Zorn hinunter und drückte stattdessen den Lappen aus, wrang ihn so fest, dass seine Handgelenke schmerzten.
    »Aber sie hat ständig nur geweint, sie hatte Angst vor mir«, berichtete der Wächter weiter. Seine Stimme begann leicht zu beben. »Dabei wollte ich ihr doch gar nichts Böses. Ich wollte doch nur, dass sie sich hier wohlfühlt.«
    Tom klatschte den Lappen fester als nötig auf den Boden.
    »Ich habe ihr immer wieder zugeredet. Aber sie hat nicht aufgehört, war nicht zu trösten. Da … da ist es irgendwann mit mir durchgegangen, verstehst du?«
    Versuchte er etwa, sich vor Tom zu rechtfertigen? Wenn ja, war es ein jämmerlicher Versuch in Anbetracht dieses sinnlosen Mordens. Es verdeutlichte ihm nur, dass er mit Demut allein nicht überleben würde. Dieser Irre würde früher oder später über ihn herfallen, egal, wie unterwürfig er sich verhielt. Ein falsches Wort oder eine unangemessene Bewegung, und die Sicherung im kranken Hirn dieses Wahnsinnigen würde endgültig durchbrennen. Wenn er hier lebend rauskommen wollte, musste er sich selbst helfen. Aber wie? Noch während er darüber nachdachte, hörte er zu seiner Rechten leises Schluchzen.
    Heulte der Kerl etwa?
    »Als es vorbei war«, wimmerte der Wächter, »da hat es mir furchtbar leidgetan. Es tut mir immer furchtbar leid.« Er zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Dann wischte er die Träne weg, die seine speckige Wange hinablief. »Ich versuche dann, es rückgängig zu machen, aber das geht natürlich nicht. Also habe ich sie in die Truhe gelegt, um sie so zu erhalten, wie sie waren. Aber irgendwann wurden es zu viele.« Er schniefte und wischte sich noch mehr Tränen aus den Augen. »Ich habe wirklich alles versucht, sie zu erhalten, das kannst du mir glauben. Ich wollte nicht allein sein, weißt du? Aber ich verstehe nicht viel davon. Und in der Truhe war nur Platz für einen. Also habe ich sie abwechselnd da reingelegt. Aber mit der Zeit sind sie immer mehr zerfallen.« Ein zittriges Aufschluchzen. »Verstehst du, sie haben mich verlassen! Also musste ich eine Entscheidung treffen. Ich konnte doch nicht meinen eigenen Sohn …« Er hielt inne und schluckte. Dann wurde sein Blick klar und fiel wieder auf den Leichnam vor ihm. »Also habe ich beschlossen, mich von den Mädchen zu trennen.« Er sah zu dem geschlossenen Schrank hinüber, in dem das Einmachglas stand. »Nur Susanna wollte ich nicht hergeben. Vielleicht weil sie die Erste war. Ist wahrscheinlich wie bei Erstgeborenen. Man hat eine stärkere Bindung zu ihnen und will sie nicht loslassen.«
    Tom wischte weiter den Boden und versuchte dabei, nicht zu viel Wahnsinn in diese Worte zu interpretieren. Doch es gelang ihm nicht.
    »Na ja«, fuhr der Wächter schließlich fort, »jedenfalls war ich gerade dabei, einen der Körper im Garten zu vergraben, als du aufgetaucht bist. Ironisch, nicht wahr?« Seine Stimme wurde fester und nahm wieder diesen schneidenden Unterton an. »Die Frage ist nur: Was mache ich jetzt mit dir?«
    Tom erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Finger krallten sich in den Lappen, den er auf den Boden presste. Auf einmal war es so still in dem Keller, dass er glaubte, die Zeit wäre stehengeblieben. Ein paar quälend lange Sekunden vergingen, in denen er sich ausmalte, wie er vor seinem eigenen Grab im Garten stand, während die Klinge eines Messers durch seinen Kehlkopf schnitt, als plötzlich ein Geräusch durch die offene Kellertür drang.
    Die Türklingel!
    Toms Herz überschlug sich. Hoffnung durchflutete seinen geschundenen Körper wie Wasser ein ödes Tal nach einer Sintflut.
    Sie sind da!, dachte er, und sein Puls pochte heiß an seinen Schläfen. Ich bleibe am Leben!
    Er sah, wie der Wächter blitzschnell aufsprang und zu der Werkbank hinüberhastete. Aufgeregt wühlte er in einigen Schubladen herum, kurz darauf stand er direkt vor Tom. Er packte ihn an den Schultern und stieß ihn unsanft auf die Decke vor der Wand zurück. Dann stopfte er Tom das Taschentuch in den Mund, bis dieser anfing zu würgen. Anschließend fixierte er das Ganze mit Klebeband, das er Tom um Mund und Nacken wickelte. Dabei streifte er sein gebrochenes Nasenbein. Tom stieß einen stummen Schrei aus.
    »Du bleibst, wo du bist!«,

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