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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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stundenlang über dieses Thema im Internet recherchiert. Heute Morgen habe ich schließlich ein paar Kollegen kontaktiert, die auf diesem Gebiet etwas mehr Erfahrung besitzen als ich. Und sie alle haben mich in meiner Meinung bestätigt.« Ihr Blick wurde fester. »Nein, Tom, ich halte Sie weder für verrückt noch für eine gestörte Persönlichkeit. Lediglich für jemanden, dessen Gefühlswelt gründlich durcheinandergewirbelt worden ist und der jetzt zu stolz ist, sich beim Aufräumen helfen zu lassen.«
    Tom betrachtete sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Argwohn. »Und was macht Sie da so sicher?«, wollte er wissen, während er sich die Tränen aus dem Gesicht wischte.
    »Es sind mehrere Dinge, die mich und meine bescheidenen medizinischen Fähigkeiten zu dieser Erkenntnis bringen.« Sie betonte das Wort ironisch und warf ihm dabei einen vielsagenden Blick zu. »Zum einen entwickelt sich eine solche Spaltung der Persönlichkeit unmittelbar nach einem traumatischen Erlebnis und bis zu einem maximalen Alter von sechs bis acht Jahren. Da Sie zum Zeitpunkt Ihres Traumas bereits dreizehn waren, können wir diese Entwicklung ausschließen. Außerdem liegt bei fast allen Betroffenen ein langer, oftmals Jahre andauernder Missbrauch zugrunde. Ihre Erlebnisse waren zwar massiv, aber nur von relativ kurzer Dauer, was trotz der Härte kaum ausreichen dürfte, eine solche Aufspaltung zu verursachen. Darüber hinaus erscheint es mir nahezu unmöglich, eine derartige Krankheit über so viele Jahre vor anderen zu verbergen. Schon gar nicht, wenn man sich wie Sie seit seiner Kindheit in ärztlicher Behandlung befindet. Denn die aufgespalteten Persönlichkeiten entwickeln sich normalerweise in völlig unterschiedliche Richtungen. Und damit meine ich nicht nur auf emotionaler Ebene. Sie haben andere Interessen und Fähigkeiten, kleiden sich unterschiedlich, entwickeln eine eigene Handschrift und ein eigenes Stimmbild. Mitunter sogar ein anderes Geschlecht. Ist Ihnen in irgendeiner Form jemals etwas Derartiges an Ihnen aufgefallen? Eine fremde Handschrift? Kleidung, die Sie nicht zuordnen können? Menschen, von denen Sie nicht wissen, woher Sie sie kennen?«
    Tom schüttelte den Kopf.
    »Ihrer Frau auch nicht, wie sie mir am Telefon bestätigt hat. Und ich bin ziemlich sicher, dass sie so etwas bemerkt hätte. Und außerdem …« Beherzt trat sie einen Schritt auf ihn zu, so dass sie jetzt direkt vor ihm stand und er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. »In Anbetracht der kleinen Ansprache, die Sie gerade gehalten haben, würde ich behaupten, Sie brauchen gar keine andere Persönlichkeit, um ein Arschloch zu sein! Reicht Ihnen das als Erklärung?«
    »Touché!« Tom hob die Hände, als wolle er sich ergeben. »Ich schätze, das habe ich verdient.«
    »Ja, Tom, das haben Sie, verdammt noch mal!«
    »Es tut mir leid.«
    »Das sagten Sie bereits.«
    »Und ich meine es auch ernst.«
    »Manchmal genügt das aber nicht!« Dr. Westphal ging einige Schritte durch die Küche, während sie sich energisch die Haare hinter die Ohren streifte und so ihre vor Empörung geröteten Wangen freilegte. Es war das erste Mal, dass Tom sie so emotional erlebte. »Wissen Sie«, fauchte sie zornig, »langsam kann ich Ihre Frau sehr gut verstehen. Sie scheinen eine Art Berufung daraus zu machen, andere vor den Kopf zu stoßen. Und anstatt sich ständig zu entschuldigen, sollten Sie lieber daran arbeiten, dieses Verhalten einzustellen.«
    »Ich weiß«, seufzte er.
    »Aber?«
    »Es ist nur … jedes Mal, wenn ich mit Ihnen rede, komme ich mir vor wie ein Experiment, bei dem jede Reaktion von mir beobachtet und bewertet wird.«
    »Und deshalb schalten Sie auf stur.«
    »Ja, aber ich bin keineswegs so kalt und abgeklärt, wie Sie vielleicht denken.«
    »Ich halte Sie nicht für gleichgültig, Tom. Nur für einen ziemlich verbohrten Idioten!«
    »Damit liegen Sie wohl richtig«, gab er betreten zu.
    »Und Ihnen ist hoffentlich auch klar, dass Ihre Sturheit an Ihrer momentanen Situation nicht unschuldig ist. Wären Sie früher zu dieser Einsicht gelangt …«
    »Ja, ich weiß«, fiel er ihr ins Wort. »Aber das ändert nun auch nichts mehr.«
    Er ertappte sich dabei, wie sein Blick von seinen Händen wieder zu ihrem Ausschnitt wanderte, über den sich eine dünne, glänzende Schweißschicht gelegt hatte. Unwillkürlich stellte er sich vor, wie es wohl wäre, ihre Brüste zu küssen, während sich seine Hand über ihre festen Schenkel zu

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