Stigma
mitzukommen?«
»Na ja«, meinte Tom und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Das könnte problematisch werden, er ist im Moment nicht besonders gut auf mich zu sprechen.«
»Wieso überrascht mich das nicht?« Ihr Blick legte wieder an Schärfe zu. »Was ist passiert? Haben Sie ihn auch geschlagen oder beschimpft?«
Tom räusperte sich kurz. »Äh, nein, wir hatten nur eine heftige Meinungsverschiedenheit. Aber ich denke, das legt sich wieder. Allerdings kann man sich da bei Stefan nie so ganz sicher sein.«
Das Donnergrollen entfernte sich, doch der Sturm draußen schien noch heftiger zu werden. Er peitschte die Regentropfen gegen das geschlossene Fenster, als wollten sie verzweifelt um Einlass bitten.
»Tja, Tom«, meinte Dr. Westphal, und ein Lächeln wölbte ihre vollen Lippen, das ihre perfekten Zähne freilegte. »Wie es aussieht, bin ich jetzt Ihre einzige Verbündete.«
Langsam kam sie auf ihn zu, und Tom fiel auf, dass sich etwas an ihrem Verhalten verändert hatte. Wieder strich sie sich die Haare hinters Ohr, doch diesmal waren ihre Bewegungen sanft, beinahe lasziv. Und in ihre Augen hatte sich wieder dieser fordernde Blick geschlichen, der die bernsteinfarbenen Punkte darin zum Funkeln brachte. Sie blieb unmittelbar vor ihm stehen, so dass Tom ihr Parfüm riechen konnte, dessen süßlich herbe Aura ihn augenblicklich betörte. Ihre Weiblichkeit war so dominant, dass sie ihn beinahe erdrückte.
»Sie sollten also lernen, Ihre Chancen wieder zu nutzen«, sagte sie. »Nur dann können Sie wirklich frei sein.«
Da war er wieder. Dieser Augenaufschlag, der ihn aufzufordern schien, sich zu nehmen, was ihm so gut gefiel. Oder redete er sich das bloß ein? Jedenfalls erhöhte sich seine Herzfrequenz spürbar.
»Ich …«, stammelte er nervös. »Ich bringe die Lebensmittel in die Kühltruhe, bevor sie unbrauchbar werden.« Er griff nach der Tüte wie nach einem rettenden Stück Treibholz.
»Tun Sie das«, sagte Dr. Westphal und trat einen Schritt zurück. Sie betrachtete die Reste der Tassen auf dem Boden, die unter ihren Sohlen knirschten. »Inzwischen kümmere ich mich um dieses Missgeschick hier.«
»Das brauchen Sie doch nicht zu tun.«
»Ich habe gesehen, wie Sie Tee kochen«, entgegnete sie entschlossen. »Also stelle ich mir lieber gar nicht erst vor, was alles passiert, wenn Sie versuchen aufzuwischen.«
»Wie Sie meinen.«Gerade wollte er gehen, als er innehielt und sich erneut zu ihr umdrehte. Er sah sie nicht direkt an, sondern schaute auf die Scherben, die überall auf dem Küchenboden verstreut lagen und abermals dieses beklemmende Gefühl in ihm erzeugten. »Wieso sind Sie geblieben?«, fragte er schließlich.
Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an und seufzte. »Nun ja, an Ihrem unwiderstehlichen Charme hat es bestimmt nicht gelegen«, meinte sie spöttisch. Dann schlich sich etwas Anrührendes in ihren Blick. »Aus irgendeinem Grund mag ich Sie, Tom. Und ich will nicht, dass Sie hier zugrunde gehen. Das haben Sie nicht verdient.«
Er nickte.
»Und außerdem«, fügte sie hinzu, »fand ich Ihr Kompliment vorhin sehr nett.«
Seine Stirn legte sich erneut in Falten. »Welches Kompliment?«
»Nun ja«, meinte sie und stemmte die Hände kokett in die Hüften, »offensichtlich sind Sie ja der Meinung, ich hätte einen Knackarsch. Und eine Frau in meinem Alter kriegt so etwas nicht mehr oft zu hören.«
»Oh … äh … ach das …« Er fühlte, wie er rot anlief. »Gern geschehen«, meinte er verlegen und fingerte nervös an der Tüte herum. »Ich geh dann mal schnell«, stotterte er und eilte aus der Küche, während Dr. Westphal ihm amüsiert nachblickte.
Was zum Teufel war denn das gerade?, fragte er sich, als er die Stufen der Kellertreppe hinabstieg. Hatte seine Therapeutin tatsächlich versucht, ihn anzubaggern?
Blödsinn! Sie versucht nur, dir zu helfen, du Idiot!
Aber sie mag mich, das hat sie selbst zugegeben.
Ja, als Freund. Den Rest hast du dir mal wieder eingebildet!
Tom war noch immer verlegen. Er hatte sich benommen wie ein Teenager, der begierig seinem ersten Mal entgegenfiebert. Aber er war kein Teenager mehr. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes. Eine Konstellation, die einen Mann gewöhnlich dazu veranlasste, grünen Tee statt Bier zu trinken und nicht mehr in jedem Rock eine potenzielle Möglichkeit zu sehen, seine Triebe auszuleben.
Nur dass dein Leben eben nicht gewöhnlich ist, kam es ihm in den Sinn.
Doch
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