Stigma
den Regionen unter ihrem Rock vorarbeitete. Ihr direktes, aufbrausendes Verhalten schien ihn offensichtlich nur noch mehr zu erregen.
Reiß dich endlich zusammen, ermahnte er sich, sonst hast du es dir endgültig mit ihr verscherzt.
Er zwang sich, ihr in die Augen zu schauen. »Und es erklärt auch nicht diese plötzlichen Wutausbrüche«, fügte er hinzu.
»Erzählen Sie mir mehr darüber. Wann genau treten diese Ausbrüche auf?«
Tom grübelte darüber nach, während er die Frage verdrängte, weshalb er neuerdings bei jedem Windstoß ein Zelt baute. »Ich glaube, immer wenn ich …«
»Wenn Sie sich bedroht oder angegriffen fühlen, nicht wahr?«
Er nickte. »Ich schätze ja.«
»Nun, das ist in Ihrem Fall eine ganz typische Reaktion.«
»Wie meinen Sie das?«
Dr. Westphal lehnte sich mit verschränkten Armen an die Anrichte. »Sehen Sie, Tom, der Mensch basiert im Grunde auf dem gleichen Prinzip wie ein Computer, er funktioniert ebenfalls durch ständig wiederkehrende Variablen. Nur dass wir sie Gewohnheiten nennen. Bestimmen jedoch negative Dinge wie Gewalt und Ausgrenzung unseren Alltag, entwickeln wir mit der Zeit ein empfindliches Frühwarnsystem für diese Bedrohungen und programmieren damit unbewusst eine Art Abwehrverhalten, bevor der potenzielle Angriff überhaupt stattfinden kann. Angstpatienten entwickeln mit der Zeit ein gereiztes, mitunter sogar aggressives Verhalten allem gegenüber, was sie als Bedrohung einstufen. Daher haben sie oft Probleme damit, sich unterzuordnen, und betrachten jegliche Art von Autorität als Angriff. Sie können sich einer solchen Dominanz nicht beugen, weil sie sich ihr sonst ausgeliefert fühlen.«
»Mit anderen Worten: Ich habe Angst vor der Angst!«
»Richtig. Und in Ihrem Fall äußert sich das in Form von unkontrollierten Wutausbrüchen. Die benutzt Ihre Psyche bewusst als Schutzschild, denn Wut ist in der Regel stärker als Angst.«
Die Falten auf Toms Stirn wurden tiefer, während er seinen Gedanken nachhing. »Fanta«, sagte er schließlich. Es war nicht mehr als ein Flüstern.
»Wie bitte?«
»Stefan Tauber.«
»Der Freund, von dem Sie mir erzählt haben?«
Tom nickte kaum merklich. »Er war es, der diese Wut zum ersten Mal in mir ausgelöst hat, an dem Tag, als wir uns kennengelernt haben. Und er hat genau dasselbe gesagt.«
»Eine weitere wichtige Begebenheit, von der Sie mir nie erzählt haben«, bemerkte Dr. Westphal spitz.
»Was Ihre Therapie betrifft, habe ich das bis jetzt auch nicht für wichtig gehalten.«
»Aber jetzt halten Sie es für wichtig. Also erzählen Sie mir davon.«
Tom atmete tief durch und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. »Mein Verlag hatte mich zu einer Autogrammstunde in einer Buchhandlung in Koblenz überredet. Na ja, ich war ziemlich weggetreten, ich hatte reichlich Medikamente geschluckt, um das Ganze durchzustehen.«
Sie nickte.
»Jedenfalls ist plötzlich dieser Handwerker aufgetaucht. Er trug genau so eine Latzhose wie …«, er stockte kurz, »… wie der Wächter.«
»Und das hat eine Assoziation in Ihnen ausgelöst«, stellte die Ärztin fest.
»Ja. Ich bin abgehauen und habe mich auf der Toilette verbarrikadiert, bis Stefan plötzlich aufgetaucht ist.«
»Sie haben sich auf einer Toilette kennengelernt?«
»Soll ich nun weitererzählen oder nicht?«, fragte Tom gereizt.
»Nur zu.«
Tom erzählte ihr alles über diese Begegnung, ließ kein Detail aus. Von Fantas plötzlichem Erscheinen bis hin zu ihrer gemeinsamen Rückkehr in den Verkaufsraum der Buchhandlung. Als er geendet hatte, spitzte Dr. Westphal nachdenklich die Lippen.
»Hm«, meinte sie skeptisch, »ziemlich ungewöhnlich. Ich meine, es entspricht nicht gerade gängigen Verhaltensmustern, jemanden unter solchen Umständen auf einer Toilette anzusprechen, um ihm auf diese Weise seine Ängste auszutreiben.«
»Glauben Sie mir, wenn Sie Stefan kennen würden, fänden Sie das keineswegs ungewöhnlich. Er ist alles andere als eine gängige Erscheinung. Er passt einfach in kein Muster.«
»Sie machen mich neugierig, Tom. Sie sagen, er hätte ähnliche Erfahrungen mit Angst gemacht. Hat er auch erwähnt, welche?«
Tom schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, er redet nicht gerne über sich. Jedenfalls weiß ich bis heute so gut wie nichts über ihn.«
»Ich wäre wirklich sehr daran interessiert, diesen Menschen kennenzulernen«, sagte Dr. Westphal. »Glauben Sie, er wäre damit einverstanden, zu Ihrem nächsten Termin
Weitere Kostenlose Bücher