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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Vorstellung von dem, was ihm noch bevorstand, und entwickelte ein widerspenstiges Eigenleben.
    Sie waren einfach weggegangen, hatten ihn hier zurückgelassen. Was hatte er jetzt noch zu verlieren?
    Seine rechte Gesichtshälfte fühlte sich geschwollen und taub an, und er schmeckte Blut im Mund. Ein Geschmack, der die Kraft in ihm noch wachsen ließ. Schließlich holte er tief und pfeifend Atem durch seine gebrochene Nase und spuckte dem Wächter mit der ganzen Wucht des abgrundtiefen Hasses, der sich in ihm angestaut hatte, blutigen Speichel ins Gesicht.
    »Leck mich doch, du geisteskranker Dreckskerl!«, legte er gleich darauf nach.
    Augenblicklich durchströmte ihn das warme, befriedigende Gefühl des Triumphes, erzeugte einen Glücksrausch, der ihm einen Moment der absoluten Überlegenheit bescherte. Zwar war ihm klar, dass dies nur von sehr kurzer Dauer sein würde, doch trotz des tranceähnlichen Zustandes, in dem er sich befand und der ihn in einer Sphäre aus absoluter Gleichgültigkeit schweben ließ, kostete er jede Sekunde davon voll aus.
    Dann sah er aus dem Augenwinkel etwas aufblitzen. Durch den Schleier der Benommenheit kam es ihm vor wie ein goldener Sonnenstrahl, der sich durch dichten Nebel hindurchkämpfte. Es erinnerte ihn an glückliche Kindertage, an denen er sorglos auf Wiesen gespielt und mit Freunden gelacht hatte, und kurz empfand er ein warmes Gefühl von Geborgenheit. Doch dann begriff er, dass es nur ein reflektierender Lichtpunkt an der Hand des Wächters war, die nun zur Faust geballt auf ihn niederfuhr.
    Toms Gesicht schien zu explodieren, als der goldene Ehering mit der Wucht des Wahnsinns gegen sein Kinn schmetterte und ihm den Kiefer zertrümmerte. Der Nebel wurde schlagartig dichter, umhüllte ihn wie eine Schicht aus Lachgas, die jeglichen Schmerz absorbierte und seine Wahrnehmung zu dem blendenden Licht der Kellerdecke emportrug, dessen Intensität mit jeder Sekunde zunahm. Er spürte noch die Sohle des schweren Arbeitsschuhes, die auf seinen Oberschenkel gepresst wurde; fühlte die Flüssigkeit, die sich aus den aufplatzenden Brandblasen über seine brennenden Wunden ergoss. Doch er empfand keinen Schmerz mehr, der war bereits ausgeblendet. Immer weiter schwebte er auf das gleißende Licht zu (oder das Licht auf ihn?), das nun heller war als die Sonne, nach deren wärmenden Strahlen er sich so sehr sehnte, bis der grelle Lichtkranz ihn endgültig verschlungen hatte …
    Es war sein eigener Schrei, der ihn wieder ins Diesseits beförderte. Augenblicklich ließ das grelle Strahlen über ihm nach, bis es wieder das normale Licht einer Glühbirne war und ihm auf diese Weise signalisierte, dass sich das Tor zu seiner Vergangenheit geschlossen hatte. Sein Atem ging wie der eines Hundertmetersprinters nach einem Weltrekord. Jede Faser seines Körpers stand in Flammen. Hastig griff er nach seinem rechten Oberschenkel, in dem noch immer der brennende Schmerz nachhallte. Als seine Hand den Stoff der Jeans spürte, verging das Gefühl der Nacktheit und des Ausgeliefertseins. Immer wieder streiften seine Finger über die glatte, weiche Oberfläche, streichelten den Stoff, als wäre es die Haut eines Neugeborenen. Seine Wahrnehmung kehrte zurück, registrierte die Stimme, die er zunächst für eine der Stimmen aus seinem Kopf hielt. Doch dann wurde sie klarer.
    Erschöpft richtete er sich auf und drehte sich in die Richtung, wo er die Stimme vermutete, die wie durch Wasser zu ihm durchdrang. Sie gehörte Dr. Westphal, die in der Tür des Wäscheraums stand. Er sah, dass sie ihr Mobiltelefon am Ohr hatte und aufgeregt mit jemandem telefonierte. Tom brauchte einige Sekunden, bis sich die Worte zu Sätzen formten, die nun wie Scheinwerfer in die Dämmerung seines Verstandes eintauchten.
    »… ja, und bitte beeilen Sie sich! Er wacht gerade wieder auf«, konnte er eben noch verstehen, bevor sie das Gespräch beendete.
    »Was … was ist passiert?«, fragte er und sah sie verwirrt an.
    »Es ist alles in Ordnung«, beteuerte sie, doch das wirkte wenig glaubhaft. »Sie sind in Ihrem Haus. Gleich kommt jemand, der Ihnen hilft.«
    »Aber …«, stammelte Tom und versuchte, sich zu orientieren. »Mir fehlt doch nichts. Ich muss gestolpert sein und die Besinnung verloren haben.« Er rieb sich seinen Kopf, konnte jedoch weder eine Beule noch eine schmerzende Stelle finden. Noch immer rieb seine Hand seinen Oberschenkel. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist die Tüte mit den Lebensmitteln. Ich

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