Stigma
wollte sie in die Truhe stellen, als …«
Die Erinnerung raste auf ihn zu wie ein Schnellzug, der ihn frontal erfasste. »Sechsundvierzig!«, entfuhr es ihm wie eine Offenbarung. Sein Kopf schwenkte langsam herum, bis seine Augen die Truhe erblickten, die ihm klarmachte, dass dies alles nicht nur ein böser Traum gewesen war.
Entsetzt sprang er auf, wirbelte herum und starrte Dr. Westphal völlig verwirrt an.
»Hören Sie«, stieß er hervor und klang dabei verzweifelter, als er beabsichtigte. »Dafür gibt es eine Erklärung, das hat nichts mit mir zu tun!«
»Tom, bitte bleiben Sie ruhig«, erwiderte Dr. Westphal nur. »Sie müssen sich jetzt erst einmal beruhigen.«
Sie selbst wirkte alles andere als ausgeglichen. Tom sah ihr an, dass sie ihn nur hinhalten wollte. Vermutlich so lange, bis die Polizei eintraf, die sie offensichtlich eben verständigt hatte. Bei dem Anblick, der sich ihr hier bot, konnte er es ihr nicht verdenken.
»Ich weiß, das ist sicher schwer zu glauben«, redete er weiter auf sie ein, »aber ich habe das Mädchen weder entführt noch umgebracht. Da will mir jemand was anhängen!« Es hörte sich genauso abgedroschen an wie ein Satz aus einem seiner Bücher.
Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Bleiben Sie stehen, Tom«, befahl sie und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm symbolisch auf Distanz, während sie einen Schritt zurückwich. »Kommen Sie nicht näher.« Ihre Hand griff hastig in die Tasche ihres Jacketts und zog eine Dose Pfefferspray hervor, die sie vor sich hielt wie eine Pistole.
Tom erstarrte unwillkürlich. Die Situation wurde für ihn immer unübersichtlicher. »Kommen Sie, Frau Doktor, Sie können doch nicht ernsthaft glauben, dass ich …« Er zeigte auf die Truhe, brachte es jedoch nicht fertig, es auszusprechen. »Jetzt überlegen Sie doch mal. Ich wäre ja wohl kaum hier hinuntergegangen, wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, und hätte dann auch noch so ein Theater gemacht, damit Sie darauf aufmerksam werden. Trauen Sie mir so etwas tatsächlich zu?«
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll, Tom.«
»Willkommen in meiner Welt, Frau Doktor.«
»Aber was ich hier sehe, spricht nicht gerade für Sie«, fügte sie hinzu.
Tom trat unruhig von einem Bein aufs andere. Ihm blieb wenig Zeit, das war ihm klar. Er musste sie überzeugen oder überwältigen, bevor die Polizei eintraf. Doch selbst wenn ihm das gelang, was dann? Wohin sollte er fliehen? Das Haus zu verlassen erschien ihm unmöglich, aber er sah ein, dass es wenig erfolgversprechend war, sich hier zu verbarrikadieren. Er musste untertauchen, musste einen Ausweg finden, der ihm mehr Zeit verschaffte. Zeit, die er benötigte, um dieses Chaos zu ordnen, in dessen Mitte er sich befand. Und er hätte sein Leben darauf verwettet, dass der Schlüssel dazu in seiner Vergangenheit zu finden war. Diese immer wiederkehrenden Rückblenden, die vielen Übereinstimmungen. Das alles musste irgendwie zusammenhängen. Aber zunächst einmal galt es, heil aus dieser Situation herauszukommen. Doch der Countdown zu seiner Hinrichtung lief bereits. Er musste sich beeilen.
»Sehen Sie mich an«, sagte er und versuchte dabei, so überzeugend wie möglich zu klingen. »Sehen Sie mir in die Augen, und sagen Sie mir, dass ich für das hier verantwortlich bin.«
»Kommen Sie mir nicht so, Tom«, wehrte sie ab und umklammerte das Pfefferspray noch fester. »Ich blicke jeden Tag in die Abgründe menschlicher Seelen, aber in den Augen habe ich dergleichen noch nie gefunden. Heben Sie sich also diese billigen Tricks für Ihre Bücher auf.«
Er atmete tief durch. Dass sie Psychiaterin war, erschwerte ihm das Ganze erheblich. Natürlich hatte sie recht. Der Blick in die Augen eines Menschen offenbarte selten seine Geheimnisse. »Na schön«, sagte er entschieden. »Und was ist dann mit all dem, was Sie mir gerade in der Küche gesagt haben? Was ist mit ›Ich bin als Ihre Freundin hier‹? Und was ist mit ›Ich halte Sie nicht für verrückt‹? Und vor allem, was ist mit ›Ich mag Sie, Tom‹?«
Er glaubte, ein winziges Zögern in ihrer Körperhaltung zu erkennen. Aber vermutlich war das ein Trugschluss. Sie war viel zu professionell, um sich von solchen Anspielungen beeindrucken zu lassen.
»Darüber können wir gerne reden, wenn Sie sich in Polizeigewahrsam befinden«, antwortete sie. Doch in ihrer Stimme lag etwas weniger Festigkeit als noch vor einigen Sekunden.
»Ich kann meine Unschuld nicht
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