Stille Gefahr #2
Schultern und Hüften waren ein bisschen zu breit, aber auch das passte einfach. Sie sah … stark aus. Und dennoch wirkte sie sehr, sehr weiblich mit ihren endlos langen Beinen, den üppigen Brüsten und einem super Hintern.
Er fragte sich, wie sie wohl hieß und was sie hierher geführt hatte.
Seltsamerweise trug sie keine Handtasche, anders als die meisten Frauen. Sie strahlte eine Stärke aus, die ihn faszinierte. Doch als sie auf die Polizeiwache zuging, schien sie verunsichert, wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Sie ließ die kräftigen Schultern sinken, als trüge sie eine furchtbare Last. Dann, keine fünfzehn Sekunden später, hob sie den Kopf, nahm Haltung an und starrte auf das Gebäude.
Wer bist du? , fragte er sich.
Nur zu gern hätte er ihren Namen erfahren.
Dann setzte sie sich wieder in Bewegung, langsam, aber zielstrebig. Einen Schritt nach dem anderen.
Einen Schritt nach dem anderen, Nia , sagte sie sich.
So wurde man mit so einer Scheiße fertig: Indem man es einfach hinter sich brachte – Schritt für Schritt.
Sie verspürte eine seltsame Leere im Magen, und ihre Augen waren merkwürdig trocken.
Ihr war klar, was man ihr da drinnen sagen würde.
An diesem Morgen hatte sie in einem langweiligen, nichtssagenden Hotelzimmer die Augen aufgemacht und gewusst, dass ihre Cousine tot war.
Joely war tot.
Und zwar schon seit knapp zwei Wochen. Obwohl der Sheriff nichts Genaues gesagt hatte, wusste Nia, dass Joely kein leichtes Ende beschieden gewesen war.
Innerhalb der nächsten Minuten würde Nia nun die Einzelheiten erfahren. Gleich sollte sie ihre Cousine wiedersehen, und irgendwie ahnte sie, dass dies eine Narbe hinterlassen würde – auf ihrem Herzen, auf ihrer Seele.
Geh einfach weiter, Nia. Einen Schritt nach dem anderen …
Schneller, als es ihr lieb war, erreichte sie die Eingangstür und ging hinein. Kühle Luft schlug ihr entgegen, und sie erschauerte. Natürlich wusste sie, dass es draußen höllisch heiß war – sie hatte schon des Öfteren erlebt, wie anstrengend das Wetter in Kentucky sein konnte, oft stieg das Thermometer auf über zweiunddreißig Grad und dazu herrschte eine absurd hohe Luftfeuchtigkeit. Dennoch war ihr zurzeit immer kalt. Auch jetzt fror sie, während der Schweiß auf ihrer Haut trocknete und die Klimaanlage auf sie einpustete.
Einen Schritt nach dem anderen … und noch einen.
Weiter vorn sah sie eine kleine ältere Frau mit einem Helm aus grauen Haaren und unglaublich hellen Augen.
Ihre Blicke trafen sich, und Nia wich instinktiv in das nächste offene Zimmer aus.
Als sie im Türrahmen stehen blieb, fiel ihr das Schild mit der Aufschrift Sheriff Dwight Nielson an der matten Glastür ins Auge.
Muss mein Glückstag sein , dachte sie düster.
Sie schluckte trocken und sagte: »Sheriff Nielson?«
Ein Schockzustand war eigentlich nicht das Schlechteste, dachte Nia zusammenhangslos.
Sie schloss die Augen, und die Tränen, die darin gebrannt hatten, quollen unter ihren Lidern hervor und kullerten ihr über die Wangen. Sie wollte nicht hier sein, wollte nicht neben ihrer Cousine stehen und auf deren geschundenen Körper starren.
Joely war geschlagen worden und fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Ihre Haare, diese schönen rotbraunen Haare, sollten nicht so aussehen – sie waren zu kurz. Warum hast du sie abgeschnitten, Süße? , fragte sich Nia hohl, und sie strich Joely mit zitternder Hand über den Kopf.
So sollte es nicht sein. Nichts hier sollte so sein, nicht Joelys verquollenes Gesicht, nicht das kurze Haar.
Nia erkannte sie kaum wieder.
Sie schluckte, hob den Kopf und flüsterte: »Ich glaube, sie ist es. Aber … kann …« Sie stockte und holte tief Luft. »Ich muss ihre Schulter sehen, ihr rechtes Schulterblatt.«
Der Sheriff und der Gerichtsmediziner sahen einander an, dann rollten sie die Leiche gemeinsam auf die Seite.
Der Anblick dieses fröhlich bunten Tattoos auf Joelys blasser Haut traf Nia wie ein Dolch ins Herz. Sie wollte schreien, wollte auf irgendetwas einschlagen – irgendetwas kaputtmachen. Sie hätte gern geweint … doch sie wusste, sie würde zusammenbrechen, wenn sie sich das gestattete.
Flach atmend wandte sie den Blick ab.
Joely. Es war Joely … sie erkannte zwar das misshandelte, blutunterlaufene Gesicht nicht wieder, und auch die Frisur stimmte nicht. Aber dieses Schmetterlingstattoo war unverkennbar.
Nia hatte genau das gleiche. Joelys prangte auf der rechten Schulter, Nias auf ihrer linken.
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