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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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erzählt mein Vater meiner Großmutter von dem Baby, das wir gefunden haben,
von Warren, dem Kriminalbeamten, und von Charlotte, die zu uns ins Haus
gekommen ist. Er erzählt ihr von seinem Besuch auf der Polizeidienststelle und
daß Charlotte jetzt im Gefängnis ist. Meine Großmutter ist erschüttert und ein
wenig ängstlich. Mein Vater muß ihr auch erzählt haben, daß ich meine Periode
bekommen habe, denn gleich als sie zur Tür hereinkommt, umarmt sie mich so fest
wie schon lange nicht mehr und wiegt mich dabei ein wenig hin und her. Sie hat
sehr zarte weiße Haut mit Flecken auf den Wangen und der Stirn. Sie duftet wie
das Lavendelkissen, das sie mir in den Strumpf stecken wird. Ich glaube, sie
hat ein falsches Gebiß, aber mit Sicherheit weiß ich es nicht. Es tut gut, von
ihr umarmt zu werden, weil ihr Körper alle leeren Stellen ausfüllt.
    Sie hat kaum den Mantel ausgezogen, da schaut sie schon in die
Schränke und den Kühlschrank, um zu prüfen, ob mein Vater alle angegebenen
Zutaten für das Weihnachtsessen eingekauft hat. Ich höre, wie sie mit gesenkter
Stimme die Dinge abzählt: Perlzwiebeln; Gewürznelken; Rinderbouillon. Sie hat
ihre eigene Schürze und ihren eigenen Kartoffelschäler mitgebracht. Ich bekomme
den Auftrag, den neuen Schäler gleich einzusetzen, und der funktioniert so gut,
daß mir die Arbeit gar nichts ausmacht. Ich lasse das Wasser in einem dünnen
Strahl laufen, es erleichtert das Schälen und das Säubern der Kartoffeln.
    Neben mir zieht meine Großmutter die harte Schale von den
Steckrüben. Sie nimmt ein Messer dazu, dessen Klinge ungefähr dreißig
Zentimeter lang ist, so ein Ding, wie man es in Horrorfilmen sieht. Sie drückt
die Klinge mit beiden Händen in die Rübe und schiebt dann abwärts. Das Messer
knallt jedesmal hart auf das Holzbrett darunter. Ich bin erstaunt über die
Kraft, die sie in den Armen hat. Von hinten ist meine Großmutter nur eine
einzige ausladende Masse mit einem graugelockten kleinen Kopf. Von der Seite
ist sie beinahe hübsch anzusehen.
    Â»Ich hab meine Periode gekriegt«, sage ich.
    Meine Großmutter legt das Messer weg und wischt sich die Hände an
ihrer Schürze ab. Sie tut so, als wüßte sie es noch nicht, und nimmt mich in
die Arme. Ich habe noch den Schäler und eine Kartoffel in den Händen.
    Â»Wie fühlst du dich?« fragt sie, mich auf Armeslänge von sich
haltend.
    Â»Gut. Ich hatte Bauchweh, aber jetzt nicht mehr.«
    Â»Hast du Binden?«
    Ich nicke.
    Â»Brauchst du Hilfe?«
    Â»Ich glaube nicht«, sage ich.
    Sie legt zwei Finger unter mein Kinn und hebt meinen Kopf an, so daß
sie mir direkt ins Gesicht sehen kann. »Wenn du irgendwann das Bedürfnis hast,
etwas zu bereden oder zu fragen, dann brauchst du dich nur an mich zu wenden.
Bei mir ist das zwar schon lange vorbei, aber deswegen habe ich nichts
vergessen.«
    Noch einmal nimmt sie mich in die Arme, und ich spüre an der Art,
wie sie mich an sich drückt, daß sie mich am liebsten gar nicht mehr loslassen
würde.
    Â»Oma«, sage ich nach einiger Zeit.
    Â»Ja, was ist, Kleines?«
    Â»Weißt du, was Pfeffernüsse sind?«
    Während meine Großmutter sich in der Küche betätigt, gehen mein
Vater und ich in den Wald, um einen Baum zu schlagen. Ich fürchte, daß wir zu
lange gewartet haben; es ist später Nachmittag, und die Sonne wird gleich
untergehen. Wir können unter Hunderten von Bäumen wählen; das Problem ist nur,
daß wir den Schnee rund um den auserkorenen Baum räumen müssen, damit wir ihn
ins Haus bringen können. Wir haben beide Schippen mit, und mein Vater hat
außerdem eine Axt mitgenommen.
    In
der ganzen Zeit im Wald spricht keiner von uns ein Wort. Das Schweigen scheint
völlig natürlich und ruft keinerlei Unbehagen hervor. Es wird uns erst später
am Abend überhaupt bewußt. Wir sind auf Schneeschuhen, und ich folge der Spur
meines Vaters. Ich habe eine Schaufel in der Hand, kann also nicht mit Daumen
und Zeigefinger Rahmen bilden, aber ich fotografiere trotzdem. Den rosigen
Schnee, der sich an einem Baumstamm hochzieht. Die Spitzen der Kiefern,
rostrot, feurig lodernd. Kleine Abdrücke wie von Pfeilspitzen, die um ein
Gebüsch gestreut sind.
    Mein Vater hält an und schüttelt die Äste eines Gebildes, das wie
ein spitz zulaufender Busch aussieht. Er beginnt, den

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