Stille über dem Schnee
Warren biegt links ab, dann
wieder rechts und fährt einen Hügel hinauf in ein Wohngebiet. Ich schaue im
Vorüberfahren in die Häuser hinein. Vor einem Haus, an dem wir vorbeikommen,
stehen Dutzende von Autos. Durch die Fenster sehe ich Männer in Anzügen und
Frauen in langen Kleidern mit Gläsern in den Händen. Ein Fest. Ein Fest wäre
jetzt lustig, denke ich bei mir.
Warren wirft einen Blick auf einen Zettel mit einer Adresse darauf
und biegt wieder ab. Wir sind jetzt auf einer StraÃe mit kleinen einstöckigen
Häusern. Manche haben Scheinwerfer an den Haustüren; andere haben Lichterketten
rund um das Dach und die Fenster. Eines ist ganz dunkel, bis auf eine blaue
Glühbirne in jedem Fenster. Es wirkt kalt und gespenstisch. Die StraÃe ist
gepflügt, aber immer noch weiÃ. Auf beiden Seiten sind hohe Schneehaufen. Ich
zähle die Weihnachtsbäume, an denen wir vorüberkommen.
Warren achtet auf die Hausnummern. An der Ecke bremst er ab und hält
am Bordstein. Er kurbelt sein Fenster herunter und schaut hinaus. »Das müÃte es
sein«, sagt er und zeigt auf ein Haus.
Es ist ein einstöckiges Haus mit schrägem Dach und einem Raum, der
auf unserer Seite wie ein Erker vorsteht. Der Raum hat viele Fenster, es könnte
eine Glasveranda sein. Aber die Eigentümer haben offenbar beschlossen, ihn als
EÃzimmer zu nutzen, denn drinnen sitzen ziemlich viele Leute an einem ovalen
groÃen Tisch.
Ich kurble ebenfalls mein Fenster herunter, und kalte Luft weht in
den Wagen.
»Ich habe die Adresse vor ungefähr einer Stunde bekommen«, sagt
Warren. »Ich wollte mir das selbst mal ansehen. Anscheinend haben wir Glück.«
Der Tisch wird von einem Leuchter an der Zimmerdecke hell
angestrahlt. Ich sehe einen gebratenen Truthahn, rote Blumen, weiÃe Schüsseln
mit Speisen. Ich zähle sechs Kinder und mindestens ebenso viele Erwachsene. Am
einen Ende des Tischs sitzt eine alte Frau, am anderen ein Mann. Ein Junge
greift nach einem Krug. Eine Frau geht unter dem breiten Torbogen, der das
EÃzimmer mit dem Rest des Hauses verbindet, hin und her. Sie hält einen
Säugling an ihre Schulter gedrückt.
Ich werfe schnell einen Blick auf meinen Vater.
Das Kind ist in eine weiÃe Decke gehüllt, die nur das kleine Gesicht
und das flaumige schwarze Haar freiläÃt. Die Frau wippt bei jedem Schritt ein
wenig, als wollte sie das Kind zum Einschlafen bringen oder zu einem Bäuerchen
animieren. Sie lacht und sagt etwas zu einem Mann am Tisch. Das Baby ruckt mit
dem Kopf und drückt sein Gesicht an die Schulter der Frau. Beinahe automatisch
küÃt die Frau das Kind auf den Scheitel.
»Das ist eine Pflegefamilie«, sagt Warren. »Das Kind wird beinahe
mit Sicherheit adoptiert werden. Weià und ein Säugling. Aber hier ist es fürs
erste gut aufgehoben. Manche dieser Pflegestellen sind nicht so empfehlenswert,
aber die hier ist gut. Wo sie danach hinkommt, werde ich nicht erfahren. Darum
wollte ich, daà Sie die Kleine jetzt noch einmal sehen.«
Mein Vater ist so still, als verfolgte er eine entscheidende Szene
in einem Film, eine Szene, bei der man den Atem anhalten muÃ. Ich weiÃ, daà er
an Clara denkt und einen ungeheuren Schmerz verspürt. Aber gleichzeitig findet
so etwas wie eine Heilung statt, ein Aufatmen. Durch ein erleuchtetes Fenster
beobachten wir Baby Doris, deren richtigen Namen wir nie erfahren werden.
Nach einer Weile dreht mein Vater sich zu mir um. »Bist du soweit?«
fragt er.
Ich versuche zu sprechen. Es geht nicht.
Mein Vater nickt, und Warren legt den Gang ein.
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 DANKSAGUNG
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Ich danke der wundervollen Ginger Barber â
Agentin, Vertraute, gute Freundin.
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