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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Männer machen Trippelschrittchen auf dem
glatten Bürgersteig und halten die Arme ausgebreitet, um im Gleichgewicht zu
bleiben. Ich sehe Mrs. Kelly, die Mutter meines Freundes Roger, auf dem
Weg zur Post. Ich sehe Mrs. Trisk, meine Spanischlehrerin, und nehme die
Füße vom Armaturenbrett. Mein Vater kommt mit einer großen braunen Papiertüte
im Arm aus dem Laden, und oben schaut – o kleines Wunder – eine Zeitung heraus.
Er stellt die Einkaufstüte zwischen uns auf den Sitz und wirft mir eine
Schokoladencremeschnitte zu. Muriels Schwester backt sie immer morgens, und
spätestens um zehn sind alle weg. Mein Vater packt eine für sich selbst aus und
beißt hinein, während er den Laster in den Verkehr hinauslenkt.
    Â»Können wir Charlotte mal im Gefängnis besuchen?« Ich lecke die
Creme ab, die auf den Seiten aus der Schnitte quillt.
    Â»Wir werden es auf jeden Fall versuchen«, sagt mein Vater.
    Â»Kann ich ihr dann die Kette mitbringen?«
    Â»Ich kenne die Vorschriften nicht.«
    Wir fahren an den drei Herrenhäusern, am Teppichhaus Serenity und an
der Feuerwehr vorüber.
    Â»Hör zu«, sagt mein Vater. »Ich gebe dir jetzt zwei Regeln mit, die
du niemals brechen darfst.«
    Ich bin sofort wie erstarrt, die Zunge an der Cremeschnitte, als
wäre sie dort angefroren.
    Â»Schlaf niemals ohne Kondom mit einem Jungen«, sagt er und macht
eine kleine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Und steig nie in ein Auto,
dessen Fahrer getrunken hat, auch wenn du selbst der Fahrer bist.«
    Er intoniert diese Regeln mit strenger väterlicher Stimme. Ich bin
absolut sicher, daß das Wort Kondom noch nie vorher zwischen uns gefallen ist.
    Ich ziehe meine Zunge in den Mund zurück. Was hat das denn
ausgelöst? frage ich mich. Und dann kommt die Erleuchtung. Daß mein Vater mir
diese Regeln kaum drei Stunden nach meiner Eröffnung, daß ich meine Periode
bekommen habe, ans Herz legt, kann kein Zufall sein.
    Und in den Jahren, die noch auf mich warten, werden es diese beiden
Regeln sein, an die ich mich halte, was immer auch geschieht.
    Mein Vater blickt starr voraus, als hätte er kein Wort gesagt.
    Â»Okay«, sage ich mit kleiner Stimme.
    Seine Gesichtszüge entspannen sich sichtbar. Nach ungefähr einer
Minute wage ich es, wieder von meiner Cremeschnitte abzubeißen. Als ich sie
aufgegessen habe, schaue ich aus dem Fenster und bemerke, daß der Schnee sich
verändert hat. Er ist angetaut und dann wieder gefroren, zu lauter feinen
Kristallen, die auf jeder Fläche funkeln. Ich lecke meine Daumen und
Zeigefinger gründlich ab, dann lege ich sie zu einem Viereck aneinander und
schnalze mit der Zunge.
    Â»Was tust du?« fragt mein Vater.
    Â»Ich mache Fotos«, antworte ich. »Den ganzen Tag schon.«
    Â»Was fotografierst du?«
    Â»Nur den Schnee«, sage ich. »Die Formen, die er bildet. Wie er auf
den Dingen liegt. Auf Bäumen zum Beispiel. Und Zäunen. Wie er glitzert. Und
aussieht wie lauter Diamanten.«
    Wir kommen an dem kleinen Haus mit den Jungssachen auf der Veranda
vorüber. Vorn an der Mauer lehnt ein aufgestellter Schlitten. An einer Tür
hängt ein Kranz. Ich spähe durch die Fenster ins Haus. Ich glaube einen offenen
Kamin zu erkennen, aber es kann auch nur meine Einbildung sein. In der Einfahrt
neben dem Haus ist ein kleines graues Auto im Schnee steckengeblieben. Eine
Frau sitzt am Steuer, und neben ihr ein Junge, ungefähr acht Jahre alt. Im
Vorbeifahren höre ich den Motor auf Hochtouren jaulen, sehe, wie die Räder
durchdrehen.
    Mein Vater fährt an den Straßenrand und hält. Er macht seine Tür auf
und steigt aus. Die Hände in den Taschen, geht er zu dem grauen Auto. Ich beuge
mich über die Sitze und kurble das Fenster auf der Fahrerseite herunter.
    Â»Hallo«, sagt mein Vater.
    Â»Hallo«, sagt die Frau.
    Â»Kann ich Ihnen helfen?«
    Â»Ich wollte rückwärts raus, und jetzt stecke ich fest«, sagt sie
entschuldigend.
    Â»Lassen Sie mich mal versuchen«, sagt mein Vater.
    Die Frau steigt aus dem Wagen. Sie trägt einen grünen Parka, und
ihre Jeans hat sie in Gummistiefel gestopft, die ihr beinahe bis zu den Knien
reichen. Eine marineblaue Wollmütze bedeckt ihre Haare. Der Junge steigt
ebenfalls aus.
    Wir lauschen dem Jaulen des Motors und dem Zischen der durchdrehenden
Räder, während mein Vater versucht, den Wagen wieder

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