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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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selbst, und das Blau seiner Augen überrascht mich immer
wieder.
    Ich folge seiner Spur und bin stolz darauf, daß ich keine Mühe mehr
habe, mit ihm Schritt zu halten. Über die Schulter wirft er mir ein Werther’s
Bonbon zu, und ich fange es im Flug. Ich ziehe meine Fausthandschuhe aus,
klemme sie unter den Arm und öffne die Zellophanverpackung. Im selben Moment
höre ich aus der Ferne einen Knall, als würde eine Autotür zugeschlagen.
    Wir lauschen dem Geräusch eines auf Hochtouren laufenden Motors. Es
scheint aus der Richtung eines Motels auf der Nordseite des Hügels zu kommen.
Das Motel liegt jenseits der Straße, die vom Ort aus zu unserem Haus führt, und
wir haben selten Anlaß, dort vorbeizufahren. Trotzdem weiß ich, daß es da ist,
und manchmal kann ich es auf unseren Wanderungen zwischen den Bäumen erkennen –
ein mit roten Schindeln gedecktes flaches Gebäude, das in der Wintersportsaison
ordentlich besucht ist.
    Da höre ich es ein drittes Mal schreien – herzerweichend,
flehentlich – und zitternd verwehen.
    Â»Hey!« ruft mein Vater laut.
    Mit den Schneeschuhen an den Füßen läuft er, so gut er kann, in
Richtung des Schreiens. Alle zehn, zwölf Schritte hält er an, um sich von der
Stimme führen zu lassen. Ich folge ihm, und der Himmel verdunkelt sich, während
wir voraneilen. Er nimmt eine Taschenlampe aus der Tasche seines Parkas und knipst
sie an.
    Â»Dad«, sage ich in aufsteigender Panik.
    Der Lichtstrahl huscht unstet über den Schnee, während mein Vater
läuft. Er beginnt, die Lampe im Bogen schweifen zu lassen, vor und zurück, von
einer Seite zur anderen. Am Horizont geht der Mond auf und begleitet uns auf
unserer Suche.
    Â»Ist da jemand?« ruft mein Vater.
    Die Taschenlampe geht flackernd aus, und mein Vater schüttelt sie,
um die Batterien wieder in Kontakt zu bringen. Sie rutscht ihm aus der
behandschuhten Hand und fällt in eine weiche Mulde unter einem Baum, von wo aus
sie die eisige Schneedecke gespenstisch erleuchtet. Er bückt sich, um sie
aufzuheben, und als er sich aufrichtet, fällt das Licht zwischen den Bäumen
hindurch auf ein Zipfelchen eines blauen Stoffs.
    Â»Hallo?« ruft er.
    Im Wald bleibt alles still, wie zum Hohn, als wäre dies ein Spiel.
    Mein Vater schwenkt die Taschenlampe hin und her. Ich überlege, ob
wir nicht umkehren und zum Haus zurücklaufen sollten. Es ist gefährlich nachts
im Wald; man verirrt sich leicht. Mein Vater schickt noch einmal den Strahl der
Taschenlampe auf die Suche, dann noch einmal, und mir scheint, daß er an die
zwanzig solcher Vorstöße unternehmen muß, bevor er das blaue Zipfelchen wieder
einfängt.
    Im Schnee liegt ein Schlafsack, an dessen Öffnung ein Stück Stoff
zurückgeschlagen ist.
    Â»Warte hier«, sagt mein Vater.
    Ich sehe ihm nach, wie er auf seinen Schneeschuhen vorwärts strebt,
so wie man das manchmal in Träumen tut – unfähig, die Beine schneller zu
bewegen. Er läuft geduckt, um das Gleichgewicht besser zu halten, und nähert
sich unbeirrt dem Schlafsack. Als er ihn erreicht, reißt er ihn auf, und aus
seinem Mund kommt ein Laut, wie ich ihn noch nie gehört habe. Er fällt im
Schnee auf die Knie.
    Â»Dad!« rufe ich und laufe schon zu ihm.
    Ich laufe mit wild wedelnden Armen, und mir ist, als preßte jemand
gegen meine Brust. Die Mütze fällt mir vom Kopf, aber ich stapfe weiter durch
den Schnee. Schwer atmend komme ich endlich bei meinem Vater an, und er sagt
nicht, daß ich weggehen soll. Ich schaue zu dem Schlafsack hinunter.
    Ein kleines Gesicht blickt zu mir auf, mit großen Augen trotz der
vielen Falten, in die sie eingebettet sind. Im kurzen schwarzen Haar kleben
Blut und Schleim von der Geburt. Das Neugeborene ist in ein blutiges Handtuch
gehüllt, und seine Lippen sind blau.
    Mein Vater neigt seine Wange zum winzigen Mund hinunter. Ich weiß,
was das zu bedeuten hat, und hüte mich, ein Geräusch zu machen.
    Mit einer schnellen Bewegung hebt er den eisstarren Schlafsack auf,
drückt ihn fest an sich und steht auf. Aber es ist ein billiges, glitschiges
Material, und er bekommt das Kind nicht richtig zu fassen.
    Ich strecke beide Arme aus, um es aufzufangen.
    Er kniet wieder im Schnee. Er legt seine Tasche ab, zieht den
Reißverschluß seiner Jacke auf, zerrt so heftig, daß die Knöpfe abspringen,
sein Flanellhemd auf. Er nimmt

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