Stille über dem Schnee
zu
öffnen?
»Ich weiÃ, ich komme ungünstig«, sagt Warren.
»Kommen Sie erst mal rein«, sagt mein Vater und schlieÃt die Tür.
Warren stampft mit seinen Stiefeln zweimal kurz und heftig auf die
Matte. Sein dunkelblauer Mantel ist offen, der Schal hängt lose herab. Ich habe
mich mittlerweile an sein Gesicht gewöhnt, aber ich frage mich, wie es auf
meine GroÃmutter wirkt, mit den körnigen Narben und der schlaffen Haut.
»Hallo, Nicky«, sagt Warren.
»Hallo.«
»Das ist meine Mutter«, stellt mein Vater vor.
»Guten Abend«, sagt Warren zu meiner GroÃmutter. »Ich bin George
Warren.«
Ohne Detective .
Ohne State Police .
Meine GroÃmutter, die beide Hände auf meine Schultern gelegt hat,
nickt nur. Wenn Warren mich verhaften will, muà er mich erst einmal meiner
GroÃmutter entreiÃen.
»Sie wollten gerade essen«, stellte Warren fest. »Das duftet ja
köstlich.«
»Was kann ich für Sie tun?« fragt mein Vater.
»Ich weiÃ, die Zeit ist denkbar schlecht gewählt â ich muà auch nach
Hause zu meinen Jungs â, aber ich wollte Ihnen unbedingt etwas zeigen.«
»Wo?«
»Nicht allzuweit von hier.«
»Kann das nicht warten?« fragt mein Vater.
»Ich denke, Sie sollten es sich jetzt ansehen«, sagt Warren.
Mein Vater und der Kriminalbeamte tauschen einen Blick â bedeutet er
vielleicht eine Art Waffenstillstand?
»Wie lange wird es dauern?« fragt mein Vater.
»Eine halbe Stunde, vierzig Minuten vielleicht.«
Meine GroÃmutter läÃt meine Schultern los und zieht sich die Schürze
über den Kopf. »Mach dir wegen des Essens keine Sorgen«, sagt sie zu meinem
Vater. »Ich muà sowieso nach oben und auspacken.« Sie faltet die Schürze und
legt sie auf einen Stuhl.
Mein Vater nimmt seine Jacke vom Haken.
»Ich denke, Nicky sollte mitkommen«, sagt Warren.
Mein Vater steigt auf der Beifahrerseite ein, ich klettere nach
hinten. Warren wendet und fährt den Hang hinunter. In der Tasche an der
Rückenlehne steckt ein Snickers.
»Charlotte
Thiels Bruder ist gekommen und hat die Kaution gestellt«, berichtet Warren,
während der Jeep durch die Furchen holpert. »Das Dumme ist nur, daà sie den
Staat nicht verlassen darf. Sie ist vorläufig zu einer Tante gezogen.«
»Bis zum Prozeë, sagt mein Vater.
»Ja.«
»Wie wird das Urteil ausfallen?« fragt mein Vater.
Warren biegt auf die StraÃe ab, die in den Ort führt. »Das kommt
ganz auf die Aussage von James Lamont an. Und auf seinen Anwalt. Drei Jahre
vielleicht? Schlimmstenfalls ist sie in fünfzehn Monaten wieder drauÃen.«
»Und Lamont? Wo ist der?«
»Seine Eltern sind in die Schweiz geflogen, um ihn zu holen. Bei ihm
sieht die Sache schon anders aus â er wird nicht so leicht davonkommen. Zehn
bis zwölf Jahre, denke ich. Wenn er Glück hat, kommt er nach sechsen raus. Es
wird den Geschworenen nicht gefallen, daà er auÃer Landes gegangen ist. Und er
braucht sich keine Hoffnungen zu machen, daà er auf Kaution freikommt.«
»Hat Charlotte einen Anwalt?« fragt mein Vater.
»Ihr Bruder kümmert sich darum.«
Es würde mich interessieren, wie Charlottes Bruder aussieht. Als sie
sich wiedergesehen haben â wie war das? Haben sie sich umarmt, ganz die
Familie, die im Notfall zusammenhält? Oder war er entsetzt? Wütend? Wie vom
Donner gerührt?
»Wo lebt diese Tante?« fragt mein Vater.
»In Manchester«, antwortet Warren. »Ich kann Ihnen die Adresse
besorgen.«
»Bitte«, sagt mein Vater.
Danke, Dad.
Ich werde Charlotte die Halskette schicken. Ich werde ihr schreiben,
daà ich, gleich nachdem sie fort war, meine Periode gekriegt habe. Wenn sie aus
dem Gefängnis kommt, wird sie mich anrufen.
Wir lassen Shepherd hinter uns und fahren auf der Route 89 weiter.
Die StraÃen sind frei. Nach ungefähr zwanzig Minuten bremst Warren vor einer
Ausfahrt ab und fährt rechts vom Highway herunter. Sogleich befinden wir uns in
einem Ort, der mir vage bekannt vorkommt. Vielleicht sind mein Vater und ich
auf einer unserer ziellosen Fahrten im Sommer hier durchgekommen.
Wir passieren ein kleines Dorf, dunkel bis auf eine Shell-Tankstelle
an einer Ecke. Ein Stück StraÃe entlang sind die Lampen mit Kränzen geschmückt.
Wie spät ist es, frage ich mich. Fünf Uhr? Sechs?
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