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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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flottzumachen. Schließlich
steigt er aus. »Haben Sie eine Schaufel?« fragt er.
    Â»Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen«, sagt die Frau, in die
Sonne blinzelnd.
    Â»Kein Problem.«
    Â»Na ja – gut dann – vielen Dank«, sagt sie stockend. Sie geht einen
Schritt auf ihn zu und bietet ihm die Hand. »Ich bin übrigens Leslie.«
    Â»Robert«, sagt mein Vater und schüttelt ihr die Hand. Er dreht sich
zu mir und zeigt auf mich: »Das ist meine Tochter Nicky.« Für mich das
Stichwort, aus dem Laster zu springen.
    Â»Und das ist Jake«, sagt die Frau und legt ihrem Sohn die Hand auf
die Schulter.
    Ich stelle mich neben meinen Vater, während die Frau die Schaufel
aus ihrer Garage holt.
    Mein Vater nimmt die Schaufel entgegen, und die Frau lacht ein
wenig, als sie sie ihm überreicht. Über die Schulter meines Vaters hinweg
bemerke ich einen älteren Jungen, vielleicht zehn oder elf, der aus dem Fenster
schaut.
    Jake rückt näher an mich heran. »Du hast doch das Baby gefunden«,
sagt er. Er hat ein rundes Gesicht mit einem leicht fliehenden Kinn. Auf seiner
Oberlippe hat er gefrorenen Rotz, und demnächst wird er eine Zahnspange
brauchen. Mir fällt auf, daß sein Fäustling oben durchgebissen ist. Was ist
denn das für einer, der Wolle kaut?
    Â»Mein Vater und ich zusammen«, erkläre ich.
    Â»Und es hat noch gelebt?«
    Â»Sie lebt immer noch.«
    Â»Es war ein Mädchen?« fragt er.
    Â»Ja.«
    Â»Und ihr hat ein Finger gefehlt?«
    Â»Nein, nein, sie hatte alle ihre Finger«, sage ich. »Aber einer ist
erfroren, und da mußten sie ihn abnehmen.«
    Â»Igitt!« sagt er.
    Â»Tja, hm.«
    Ich schaue durch jedes Fenster im Haus und verzeichne: gerüschte
weiße Vorhänge, Tapete mit Blümchenmuster, eine Rolle silbernes Geschenkpapier,
eine Lampe in Form eines Flugzeugs. Ich stelle fest, daß es tatsächlich einen
offenen Kamin gibt. Ich stehe auf einem Schneewall, und von dieser Höhe aus
kann ich einen Blick in die Küche werfen, in der Licht brennt. Auf dem Tisch
sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall liegen Teigfetzen herum, und
alles ist voller Mehl. Auf der Arbeitsplatte steht eine große Flasche
Orangenlimonade, daneben ein Henkelbecher, über dessen Rand ein
Teebeuteletikett hängt. An einer Tür, die vielleicht in den Keller oder in eine
Speisekammer führt, hängt ein Stickbild vom Nikolaus.
    Â»Wollen wir einen Schneemann bauen?« fragt der Junge.
    Â»Klar. Warum nicht?«
    Jake und ich stapfen in entgegengesetzten Richtungen durch den
Schnee. Ich rolle den Unterkörper des Schneemanns, Jake den Oberkörper. Wir
ziehen geschlängelte Bahnen durch den Vorgarten. Ich rolle meine Monsterkugel
neben seiner bescheideneren durch den Schnee. Von Zeit zu Zeit schaue ich hoch
und sehe meinen Vater schippen oder eine kurze Verschnaufpause machen.
    Â»Okay«, sage ich. »Schauen wir mal, ob wir deine Kugel auf meine
draufkriegen.«
    Wir mühen uns beide stöhnend ab, den Oberkörper des Schneemanns auf
den Unterkörper zu setzen. Als das geschafft ist, rolle ich schnell noch eine
Kugel für den Kopf. Wir drücken Augen hinein. »Wir brauchen eine Karotte«, sage
ich. »Und zwei Steine.«
    Â»Mum«, ruft der Junge. »Haben wir Karotten?«
    Â»Im Kühlschrank«, antwortet sie.
    Der Junge läuft zum Haus, und ich folge, unaufgefordert. Ich klopfe
im Flur meine Stiefel ab, aber Jake läuft ohne Unterbrechung zum Kühlschrank
und läßt kleine Schneegitter überall auf dem Boden zurück.
    Der ältere Junge, den ich am Fenster bemerkt habe, und ein jüngerer,
vielleicht sechs oder sieben, kommen an die Küchentür. Der ältere trägt ein
Bruins-Hemd. Der jüngere hat eine Brille mit dicken Gläsern, hinter denen seine
Augen hervorzuquellen scheinen.
    Â»Du wohnst oben am Hügel«, sagt der Ältere. »Ihr habt das Baby
gefunden.«
    Â»Es hatte einen erfrorenen Finger«, verkündet Jake und rammt das
Gemüsefach zu.
    Â»Das weiß ich doch, Blödmann«, sagt der Ältere.
    Die Küche ist gelb gestrichen und kleiner, als ich dachte. Ein
Marmeladenglas, in dem ein Messer steckt, steht neben einem Toaströster. Auf
dem Boden liegt ein Karton Schokocornflakes. Jetzt sehe ich auch den Grund für
die Schweinerei auf dem Tisch: Auf dem Kühlschrank stehen, ordentlich

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