Stille über dem Schnee
Zwölfjährigen schüttle ich
den Kopf. »Aber doch wissen wir das mit Sicherheit«, behaupte ich. »Welche
Mutter würde ihr Kind drauÃen im Schnee erfrieren lassen? Ich hab Hunger.«
Mein Vater holt ein Wertherâs aus seiner Parkatasche und schiebt es
über den Tisch.
»Was wird denn jetzt aus dem Baby?« frage ich, während ich die
Zellophanhülle öffne.
»Das weià ich auch nicht so genau. Wir können den Arzt fragen.«
Ich schiebe das Bonbon in den Mund und gleich weiter in die
Backentasche. »Aber mal angenommen, sie würden uns das Baby geben, Dad. Würdest
du es nehmen?«
Mein Vater ist dabei, ebenfalls ein Bonbon auszupacken. Er knüllt
das Zellophan zusammen und steckt es ein. »Nein, Nicky«, sagt er. »Ich würde es
nicht nehmen.«
Die Minuten vergehen. Eine halbe Stunde vergeht. Ich erbitte noch
ein Bonbon von meinem Vater. Oben, auf einem Fernsehschirm, meldet ein
Nachrichtensprecher Budgetkürzungen. Drei Halbwüchsige aus White River Junction
stehen nach einem versuchten Raubüberfall unter Anklage. Ein Sturmtief rückt
näher. Ich sehe mir die Wetterkarte an und blicke dann auf die Uhr: zehn nach
sechs.
Ich stehe auf und gehe im Zimmer umher. Weit gehen kann man nicht.
Am Ende der Spindwand ist ein Spiegel von der GröÃe eines Buchs. Meine Lippen stehen
vor wegen der Zahnspange. Ich bemühe mich, nicht zu lächeln, aber manchmal kann
ich nicht anders. Ich habe eine glatte, reine Haut, kein Pickel weit und breit.
Ich habe die braunen Augen meiner Mutter und ihr welliges Haar, das sich im
Moment oben am Scheitel verfilzt hat. Ich versuche, es mit den Fingern
auszukämmen.
Ein Mann in einem marineblauen Mantel mit rotem Schal tritt, ohne
anzuklopfen, ins Zimmer. Ein Arzt, vermute ich. Er nimmt seinen Schal ab und
legt ihn über einen Stuhl. Ich sehe meinem Vater an, daà er gern seine Jacke
öffnen würde, aber es geht nicht. Er hat keinen einzigen Knopf an seinem Hemd.
Der Mann zieht seinen Mantel aus und legt ihn über den Schal. Er
reibt sich die Hände, als freute er sich auf einen vergnügten Abend. Er hat ein
Jackett und einen schwarzen Pulli mit Zopfmuster an, und sein Gesicht ist
holprig von Aknenarben. Rechts vom Kinn ist noch ein zusätzlicher Hautwulst,
wie von einem Autounfall oder einer Messerstecherei.
»Robert Dillon?« sagt der Mann.
Im ersten Moment bin ich überrascht, daà dieser fremde Arzt den
Namen meines Vaters kennt. Dann wird mir klar, daà er gar kein Arzt ist. Ich
setze mich kerzengerade. Mein Vater nickt.
»George Warren«, sagt der Mann. »Nennen Sie mich George. Möchten Sie
einen Kaffee?«
Mein Vater schüttelt den Kopf. »Das ist meine Tochter Nicky«, sagt
er.
Warren gibt mir die Hand.
»Sie war dabei, als Sie das Kind gefunden haben?« erkundigt sich
Warren.
Mein Vater nickt.
»Ich bin Kriminalbeamter der State Police«, erklärt Warren. Er kramt
etwas Kleingeld aus seiner Hosentasche und schiebt die Münzen in den
Kaffeeautomaten. »Chief Boyd sagt, daà Sie das Kind auf dem Bott Hill gefunden
haben«, bemerkt er, meinem Vater den Rücken zukehrend.
»Das stimmt«, sagt mein Vater.
Ein stabiler Pappbecher plumpst aus dem Automaten unter den
Kaffeehahn. Ich beobachte, wie der Kaffee herausströmt. Warren ergreift den
Becher und bläst hinein.
»Der Schlafsack und das Handtuch sind noch dort«, fügt mein Vater
hinzu. »Ich habe die Kleine in einem Schlafsack gefunden.«
Warren rührt mit einem Holzstäbchen seinen Kaffee um. Er hat graues
Haar, aber sein Gesicht ist jung. »Warum haben Sie ihn dort gelassen?« fragt
er. »Den Schlafsack, meine ich.«
»Er war zu glitschig«, antwortet mein Vater. »Ich hatte Angst, ich
würde die Kleine fallen lassen.«
»Wie haben Sie sie getragen?«
»Unter meiner Jacke.«
Warren wirft einen Blick auf den Parka meines Vaters. Dann zieht er
sich mit der Spitze seines Timberland-Stiefels einen Stuhl vom Tisch weg und setzt
sich. »Kann ich einen Ausweis sehen?« fragt er.
»Ich habe meine Brieftasche zu Hause liegenlassen«, antwortet mein
Vater. »Ich war in Eile, ich wollte die Kleine so schnell wie möglich ins
Krankenhaus bringen.«
»Sie haben nicht die Polizei angerufen? Oder den Rettungsdienst?«
»Wir wohnen ganz am Ende einer langen hügeligen StraÃe. Sie ist
nicht befestigt und wird
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