Stille über dem Schnee
wiederfinden, wo der Säugling gelegen hat?«
fragt Warren.
»Ich bin nicht sicher«, antwortet mein Vater. »Vielleicht sind noch
ein paar dünne Spuren da. Wir hatten Schneeschuhe an, aber die Schneedecke war
hart gefroren. Morgen früh kann ich Ihnen vielleicht zeigen, wo es ungefähr
war.«
Warren lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Er sieht mich an und
schaut gleich wieder weg. »Mr. Dillon«, sagt er und hält inne. »Kennen Sie
jemanden, der das Kind zur Welt gebracht haben könnte?«
Mein Vater ist irritiert â wegen der Frage und weil sie in meinem
Beisein gestellt wurde. »Nein«, antwortet er, und das Wort kommt ihm kaum über
die Lippen.
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein«, sagt er.
»Noch andere Kinder?«
Es durchzuckt mich heiÃ.
»Meine Tochter und ich leben allein«, sagt mein Vater.
»Und was hat Sie bewogen, hier raufzuziehen?« fragt Warren.
Eine kleine Stille tritt ein, und jetzt wäre ich lieber nicht im
Zimmer. »Ich fand es damals eine gute Idee«, höre ich meinen Vater antworten.
»Zuviel Stre�« meint Warren.
Ich schaue meinen Vater an. Er starrt die Skier in der Ecke an. »So
was in der Art«, sagt er.
»Was haben Sie denn in New York gemacht?«
»Ich war in einem Architekturbüro.«
Warren nimmt es nickend zur Kenntnis. »Und was treiben Sie jetzt
so?« fährt er fort. »Oben am Bott Hill?«
»Ich mache Möbel«, antwortet mein Vater.
»Was für Möbel?«
»Einfache Stücke. Tische. Stühle.«
Ich höre, wie hinter mir die Tür zum Aufenthaltsraum geöffnet wird.
Dr. Gibson kommt herein und zieht seinen Kittel aus. Er wirft ihn in einen
Behälter in der Ecke und nickt dem Kriminalbeamten grüÃend zu. Entweder kennen
sich die beiden, überlege ich, oder sie haben miteinander gesprochen, bevor
Warren in den Aufenthaltsraum gekommen ist.
»Ich gehe jetzt«, sagt der Arzt offensichtlich erschöpft.
»Wie geht es der Kleinen?« fragt mein Vater.
»Besser«, antwortet Dr. Gibson. »Ihr Zustand hat sich stabilisiert.«
»Darf ich zu ihr?« fragt mein Vater.
Dr. Gibson nimmt einen gelb-schwarzen Parka aus einem Spind.
»Sie ist auf der Intensivstation und schläft jetzt«, sagt er.
Ich bemerke den Blick, den der Kriminalbeamte und der Arzt tauschen.
Dr. Gibson schaut auf seine Uhr. »Okay«, sagt er, »auf einen
Sprung. Ich denke nicht, daà das schadet.«
Wir folgen Dr. Gibson durch mehrere Korridore, alle im selben
tristen Beige und Minzegrün gestrichen. Der Kriminalbeamte bleibt etwas zurück,
und ich stelle mir vor, daà er mich und meinen Vater beobachtet.
Die
Intensivstation der Kinderabteilung ist wie ein Rad angelegt: Das
Schwesternzimmer bildet die Nabe, von der strahlenförmig die Krankenzimmer
abgehen. Wir kommen an Eltern auf Plastikstühlen vorüber, die Apparate mit
Skalen und flackernden Lichtern fixieren. Ich warte darauf, daà einer von ihnen
laut zu schreien anfängt.
Dr. Gibson winkt uns in einen Raum, der riesengroà erscheint im
Vergleich zu dem winzigen Kind in dem Kunststoffkasten. Er gibt jedem von uns
eine Maske und erklärt, daà wir sie über den Mund halten sollen.
»Ich dachte, sie wäre auf der Säuglingsstation«, sagt mein Vater
durch das blaue Papier.
»Wenn ein Säugling einmal aus dem Krankenhaus heraus war, kann er
nicht mehr auf die Säuglingsstation. Er könnte Krankheiten hereintragen«,
erklärt Dr. Gibson. Er beugt sich über das Bettchen, richtet einen
Schlauch und wirft einen prüfenden Blick auf einen Bildschirm.
Das kleine Mädchen liegt in einem beheizten Plexiglaskasten. Eine
Hand und ein Fuà im Verband stehen steif wie bei einer Puppe von dem dünnen
kleinen Körper ab. Das flaumige schwarze Haar bedeckt die runzlige Kopfhaut wie
Vogelgefieder. Sie macht schwache Saugbewegungen, während wir sie betrachten.
Ich möchte meine Wange an den kleinen Mund legen und den warmen Atem
auf meiner Haut spüren. Daà wir sie gefunden haben, ist vielleicht das GröÃte,
was meinem Vater und mir je geglückt ist.
»Was wird jetzt aus ihr?« fragt mein Vater.
»Das Jugendamt kümmert sich um sie«, antwortet Dr. Gibson.
»Und dann?«
»Kommt sie in Pflege. Oder wird adoptiert, wenn sie Glück hat.«
Wir schweigen alle vier, als wir im
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