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Stille Wasser sind toedlich

Stille Wasser sind toedlich

Titel: Stille Wasser sind toedlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlie Higson
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weiterzuarbeiten, die er an einem dicken Ast über dem Bach befestigt hatte.
    Er war gerade dabei, sie zum ersten Mal auszuprobieren, und wollte das Seil noch etwas kürzen, als er seine Tante auf sich zukommen sah, gefolgt von zwei verlegen dreinblickenden Polizisten.
    »James«, sagte Charmian und bemühte sich ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für dich.«
    Die Polizisten sahen so komisch und betreten aus, dass James beinahe laut aufgelacht hätte. Er konnte sich nicht daran erinnern, etwas angestellt zu haben … Gut, er hatte vielleicht ein paar Birnen auf die Straße geworfen und gelegentlich ein paar Steine auf das unbenutzte Gewächshaus im Hinterhof der Williams-Farm, aber das war doch wohl nicht so schlimm, dass man Besuch von der örtlichen Polizei bekam?
    Er kletterte vom Baum herunter und ging zu seiner Tante und den beiden Männern.
    »Es geht um deine Mutter und deinen Vater …«, begann Charmian. Als James vor ihr stand, sah er, dass sie geweint hatte.
    »Was ist passiert?«, fragte er und mit einem Mal wurde ihm kalt.
    »Lassen Sie nur, Miss Bond«, sagte einer der Polizisten. »Ich glaube nicht, dass der Junge alle Einzelheiten wissen muss.«
    »Oh doch, das muss er«, widersprach Charmian zornig. »Er muss es wissen. Er ist alt genug. Wir haben ihn stets wie einen Erwachsenen behandelt und offen mit ihm geredet. Sie würden bestimmt wollen, dass er …«
    Von Gefühlen übermannt, hielt sie inne und wandte den Blick ab. Dann straffte sie die Schultern und drehte sich zu den Polizisten um.
    »Es ist gut, Sie können jetzt gehen«, erklärte sie den beiden Beamten, die ihre Erleichterung kaum verhehlen konnten. Sie wischte sich die Augen. »Ich komme allein zurecht.«
    »Wie Sie meinen, Madam«, sagte der ältere der beiden Männer. Mit einem letzten mitleidigen Blick auf James gingen sie fort.
    »Komm, setz dich zu mir, James«, sagte seine Tante und ließ sich auf einer alten Holzbank nieder, die von mehrfarbigen Flechten überwuchert war.
    James kam ihrer Bitte nach und für einen Augenblick saßen sie schweigend nebeneinander und starrten über den Bach und die Kornfelder hinweg auf eine Schar Krähen, die lautstark mit den Flügeln schlugen.
    »Es hat einen Unfall gegeben«, begann Charmian. »Noch weiß niemand, was genau passiert ist, aber deine Mutter und dein Vater sind …« Sie schniefte. »Es tut mir Leid James, aber sie werden nicht mehr zurückkommen.«
    »Was meinst du damit?«, fragte James, obwohl er ganz genau wusste, was sie meinte, es nur nicht glauben wollte.
    »Es gibt keine beschönigenden Worte dafür«, sagte Charmian. »Daher werde ich ganz offen zu dir sein, James. Deine Eltern sind beide tot. Sie sind beim Bergsteigen abgestürzt. Ihre Leichen wurden am Fuß des Bergs aufgefunden.«
    Den Rest ihrer Worte nahm James wie aus weiter Ferne wahr. Sie rauschten an ihm vorbei und ergaben nicht den geringsten Sinn. Und James wollte gar nicht, dass sie einen Sinn ergaben, denn dann würde es sich vielleicht nur um ein Missverständnis handeln … Doch das eine, einfache und doch so grausame Wort dröhnte immer wieder laut in seinem Kopf.
    »Tot.«
    Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht bewusst gewesen, wie endgültig dieses Wort war. Dass es die zwei ihm so vertrauten Menschen, von denen er geglaubt hatte, sie würden immer für ihn da sein, plötzlich nicht mehr geben sollte, war unvorstellbar.
    Aber es gab sie nicht mehr. Weil sie tot waren.
     
    Zwei Jahre waren seither vergangen. Manchmal konnte er sich kaum mehr daran erinnern, wie seine Eltern ausgesehen hatten. Dann stellte er sich vor, wie sie am Bahnsteig standen und ihm zuwinkten, aber ihre Gesichter blieben seltsam verschwommen, und bevor er sie richtig erkennen konnte, drehten die beiden sich um und verschwanden im Dunst der Dampflokomotive. Hin und wieder träumte er von ihnen. Dann sah er sie klar und deutlich vor sich: Sie waren lebendig und er fragte sich, wie er je hatte glauben können, dass sie tot seien. Bestürzt umarmte er im Traum seine Mutter und entschuldigte sich, doch ehe sie ein Wort sagen konnte, wachte er jedes Mal auf. Das machte ihn wütend und er fühlte sich betrogen.
    Im Laufe der Zeit wurden die Träume seltener und er kam besser mit ihnen zurecht. Aber an seinem Verlust änderte das nichts.
    Natürlich hatte er auch manchmal mit seiner Mutter gestritten und ihre Fürsorge als selbstverständlich hingenommen. Denn auf eines konnte er sich

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