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Stille Wasser sind toedlich

Stille Wasser sind toedlich

Titel: Stille Wasser sind toedlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlie Higson
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verlassen: Wenn er sich das Knie aufgeschlagen hatte oder krank war, nahm sie ihn stets in die Arme und versicherte ihm, dass alles wieder gut werden würde.
    Im Nachhinein wünschte James, er hätte seinen Vater besser gekannt, doch dazu war dieser nicht oft genug da. Bei seiner Rückkehr brachte er James allerdings immer ein kleines Geschenk mit: Schokolade oder einen Spielzeugsoldaten oder ein Buch. James lächelte in Erinnerung daran, wie er, bereits im Schlafanzug, so lange auf dem oberen Treppenabsatz ausgeharrt hatte, bis sich der Schlüssel seines Vaters im Schloss drehte. Dann war er die Treppe hinabgerannt und hatte voller Ungeduld gewartet, während sein Vater umständlich zu suchen anfing und ihn dabei neckte – »Wo hab ich bloß das Päckchen hingetan? Oh, vielleicht habe ich es irgendwo liegen lassen …« –, bis es schließlich wie von Zauberhand auftauchte: »Ah, da ist es ja!«
    Das Haus war mittlerweile verkauft worden, seine Mutter würde ihn nie wieder in die Arme nehmen und sein Vater würde nie wieder von einer Reise zurückkehren. James war ganz allein auf der Welt, und er musste sehen, wie er zurechtkam. Natürlich machte ihn das nur umso stärker, aber manchmal hätte er all seine Stärke dafür hergegeben, nur um fünf Minuten mit seiner Mutter und seinem Vater zusammen zu sein.
     
    In seinem Schlafwagen im vorderen Teil des Zuges lag George Hellebore im Bett und zitterte. Er konnte es nicht unterdrücken – er bebte am ganzen Körper. Seit dem Wettrennen hatte er nicht mehr mit seinem Vater geredet und ihm graute vor der Begegnung. Er wünschte sich, der Zug würde niemals ankommen, sondern endlos durch die Nacht rattern auf seiner Reise nach nirgendwo.
    Aber genau das würde nicht geschehen … Mit jeder Sekunde brachte ihn der Zug seinem Zuhause ein Stück näher.
    Näher an das, was er hasste und fürchtete.

TEIL 2
    SCHOTTLAND
     

Max Bond
    D ie kraftvolle Lokomotive brauste durch die Nacht und zog die lange Reihe Waggons bis in den Norden Englands, die Ostküste entlang von York nach Newcastle, von dort aus nach Edinburgh und Perth und weiter bis nach Fort William im Nordwesten Schottlands.
     
    James schlief tief und fest und wachte erst um neun Uhr dreißig auf, als Kelly seine dürren Beine über die Bettkante baumeln ließ. Die Sonne schien durchs Fenster herein. »Aufgewacht, aufgewacht!«, rief Kelly und sprang von seinem Etagenbett herunter. »Die liebe Sonne steht am Himmel und so weiter und so weiter! Wir sind im Land der Schottenröcke.« Er spähte zum Fenster hinaus und zog ein langes Gesicht. »Das sieht ja genau wie in England aus«, meinte er enttäuscht. »Felder, Bäume, Häuser, Straßen, Wolken … und griesgrämig dreinblickende Menschen.«
    »Was hast du denn erwartet?«, fragte James und sah ebenfalls nach draußen. »Männer in Kilts, die Dudelsack spielen? Bonnie Prince Charlie und Rob Roy auf ihren Pferden?«
    »Ich weiß auch nicht«, sagte Kelly. »Ich war noch nie in einem anderen Land. Ich hab es mir irgendwie … fremder vorgestellt.«
    Der Zug war kurz vor dem Bahnhof auf offener Strecke stehen geblieben und die Lokomotive ließ Dampf ab. »Sieh genau hin«, sagte James. »Schau über die Häuser hinweg, über die Hügel und noch weiter hinauf.«
    »Was ist da?«
    »Da ist der Ben Nevis. Der höchste Berg in Großbritannien.«
    Kelly spähte zum Fenster hinaus. »Man sieht ja gar nichts«, beschwerte er sich, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte.
    »Das ist immer so«, erklärte James. »Der Berg ist meist in Wolken gehüllt. Wenn man Glück hat, erhascht man manchmal dennoch einen Blick auf ihn.«
    »Na, wenn du das sagst, wird’s wohl so sein.«
     
    Tante Charmian empfing James auf dem Bahnsteig. Er streckte ihr die Hand entgegen, aber seine Tante wischte sie einfach beiseite und nahm ihn in die Arme.
    »Du bist so steif, James. Manchmal möchte eine Dame mehr als nur einen Handschlag.«
    Tante Charmian trug eine olivfarbene Hose, die sie in hohe Reitstiefel gesteckt hatte, dazu einen passenden Blazer und eine schlichte weiße Seidenbluse mit Schal. Frauen in Hosen sah man nicht sehr häufig, aber Charmian gab sich so selbstbewusst, dass niemand es gewagt hätte, sie zu kritisieren.
    »Lass mich dich anschauen«, sagte sie und hielt ihn auf Armeslänge von sich. »Mal sehn, was diese fürchterliche Schule aus dir gemacht hat.«
    James lächelte sie an und errötete ganz leicht unter ihrem forschenden Blick.
    »Ganz passabel«, erklärte

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