Stiller und der Gartenzwerg - Main-Krimi
hing.
»Schauen Sie sich doch um, hier hat sich alles verändert.« Scherer gewann wieder an Boden, stieß den Spaten gegen die Puppe, hinter der sich Stiller verschanzt hatte. »Immer weniger Eisenbahner. Immer weniger Solidarität und Gemeinschaft. Immer mehr Vorschriften und trotzdem immer mehr Streit mit Leuten, die anders sind, die sich nicht an die Regeln halten oder sich nicht einbringen wollen. Hier ist sich inzwischen auch jeder selbst der Nächste. Nein, der Kleingartenanlage weine ich keine Träne nach!«
Die Kirchturmuhr von Sankt Kilian schlug acht Uhr. »Genug geredet.« Scherer straffte sich. Er holte Schwung, der Spaten pfiff durch die Luft.
Geistesgegenwärtig duckte sich Stiller und streckte die Vogelscheuche vor. Es ratschte, der Spaten fuhr durch den Stoff und trennte der Puppe den Kopf ab. Wie eine Boulekugel schlug er neben Stiller auf dem Boden auf und kullerte über das Beet. Die japanische Maske löste sich. Der Kopf darunter war aus einem ausgestopften Leinenbeutel geformt. Die beiden Zipfel des Beutels, von der Maske befreit, schnellten wie Ohren heraus. Jemand hatte von Hand zwei große schwarze Augen und einen grinsenden Mund auf den Stoff gemalt. Wie ein Totenschädel starrte dieses Gesicht zu Stiller, als der Kopf ausrollte und liegen blieb.
Stiller zitterte. Es hätte sein Kopf sein können. Scherer hielt verdutzt inne, offensichtlich war ihm nicht ganz klar, was genau er getroffen hatte.
Stiller zögerte nicht. Mit wildem Kriegsgeschrei sprang er auf und schleuderte den Rumpf der Vogelscheuche wie ein römisches Feldzeichen auf Scherer. Weiter schreiend hastete er durch Froeses japanisches Gartenimperium zum Zaun.
Doch diesmal misslang ihm der Sprung. Er blieb mit der Schuhspitze am Zaun hängen, versuchte, sich abzurollen, schlug dennoch hart auf dem Boden auf. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Scherer ihm folgte. Er hatte keine Zeit mehr aufzustehen, rollte sich stattdessen aus den Johannisbeersträuchern am Zaun in die Wiese. Dabei riss er eine von Ruths Figuren an sich, die er im Garten verteilt hatte.
Er blieb auf dem Rücken liegen und hielt die Figur schützend vor sich. Es war ein Faun. Doch er half ihm wenig. Mit einem Tritt kickte Scherer die Tonfigur weg und presste Stiller stattdessen die scharfe Kante des Spatens gegen die Kehle.
»Schluss mit den Spielchen«, schnaufte er. »Verraten Sie mir nur noch eines: Was hat Sie überhaupt auf mich gebracht?«
Stiller blieb starr liegen. Sein ganzer Körper schmerzte, seine Stimme war heiser. »Nichts Bestimmtes, eher eine Reihe von kleinen Hinweisen.« Er räusperte sich.
»Los, sagen Sie schon.« Scherer erhöhte den Druck.
Stiller stöhnte auf. »Es musste jemand sein, der wusste, dass ich hier recherchiere. Anders ließen sich die Warnung mit dem toten Maulwurf und der präparierte Rasenmäher nicht erklären.«
»Das wussten viele. Weiter!«
»Sie haben behauptet, Sie seien immer gut mit Strunke ausgekommen. In Wahrheit wollte er sie loswerden. Sie haben gelogen, um sich nicht verdächtig zu machen.«
»Das gilt auch für andere.« Auf Scherers Lippen sammelte sich Speichel, doch seine Stirn war trocken.
Stiller erinnerte sich an die Lebkuchenhaut seines Oberkörpers. Dieser Mann schien nie zu schwitzen. Er hustete. »Strunke hat Sie abgemahnt. Aber die Abmahnung fehlt in den Unterlagen. Die konnte nur jemand rausgenommen haben, der Zutritt zum Büro hat. Sie selbst.«
»Das mit der Abmahnung haben Sie von der Bio-Blum. Die konnte mal wieder das Wasser nicht halten.«
Der Speichel sprühte auf Stiller, was ihm fast unangenehmer war als der Spaten am Hals. »Nein, das weiß ich von anderen.« Ob er hier lebend vom Acker kam oder nicht, er wollte auf keinen Fall die brave Gerti hineinziehen. »Kempf wurde mit einem dünnen Draht erdrosselt. Sie hatten sich beim Radieschenfest eine Rolle Blumendraht eingesteckt. Durchmesser Null Komma acht Millimeter, ich hab’s gesehen.«
»Den hat hier fast jeder.«
»Schließlich der Streit mit Graser beim Radieschenfest. ›Du hast gar keine Genossen‹.« Stillers Stimme war nur noch ein Krächzen. »Sie haben sogar ihm verschwiegen, dass die Eisenbahnergenossenschaft praktisch tot war und Ihnen nur dazu diente, sich selbst zu bereichern. Klar, er hat sich für seinen Rausschmiss rächen wollen, aber nur an den Kleingärtnern. Er hat gehofft, dass über die Genossenschaft noch ein paar Eisenbahner von dem Geschäft profitieren. Er wollte nie nur der Handlanger für Sie
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